Vom Schnee, der niemals schmilzt

Bald wird sich unser erschöpftes Land eine Pause gönnen.
Zeit für ein paar, den Zenkalender abschließende Worte.

Während im letzten Januar dem Ende der Pandemie entgegen gefiebert wurde, in der Hoffnung, dass dann die Dinge wieder ihren „normalen Lauf" nehmen würden, wissen wir heute, dass dem nicht so ist. Vielleicht hat uns dieses Jahr sogar noch etwas mehr geprägt als die Corona-Jahre. Zwei Kriege, gesellschaftliche Polarisierungen direkt vor unserer Haustür, die Bewilligung aktiver Sterbehilfe bei Minderjährigen in unseren Nachbarländern – vormals als sicher geglaubte gemeinsame Werte scheinen den allgemeinen Konsens zu verlieren.

Sinnloses Töten bedeutet auch ein sich Herausnehmen aus der natürlichen Ordnung, der wir alle angehören. Es ist unsere Sucht nach Einzigartigkeit, unsere Abhängigkeit von der Daseinsbestätigung durch andere, die zu so viel mehr Leiden führt – falls nicht noch zu Lebzeiten für uns selbst, dann für die folgenden Generationen.

Die Augen, mit denen wir die Welt sehen, sind die gleichen Augen, mit denen die Welt uns sieht. Es ist eine Bewegung wie der Fuß voran und der Fuß hintan, wie das Einatmen und das Ausatmen. Nur weil wir den Blick der Welt auf uns nicht wahrnehmen wollen, bedeutet es nicht, dass es diesen nicht gibt. Nur weil wir uns beschränken auf die immer gleichen Befindlichkeiten des eigenen Ich, heißt es nicht, dass es nicht eine größere, eine weitere und eine befreiendere Sichtweise gibt.


Der Tiger fürchtet das menschliche Herz.
Der Mensch fürchtet die Freundlichkeit des Tigers.

Koan aus Korea


Das Universum des Tigers ist ein Kosmos der gegenseitigen Bedingtheit. Der Tiger „weiß" um seinen Lebensraum. Ihm ist „bewusst", dass dieser Raum, sein temporäres Revier, ihn hervorgebracht hat und er wieder dorthin zurückkehren wird.

Daher erschreckt ihn das menschliche Herz, denn dieses kultiviert wissentlich sein mittlerweile lang erreichtes Potential, den eigenen Lebensraum inklusive der eigenen Artgenossen zu zerstören.
Daher fürchten wir die Freundlichkeit eines Raubtieres, das um die Zuneigung des Universums weiß, um die Gleichwertigkeit aller Formen, das seinen Anfang kennt und seine Schlusscoda.

Und was tun wir?
Im Zazen wenden wir uns der Freundlichkeit des Tigers genauso zu wie der Furcht unserer Herzen.

Wir fragen:
Wie zeigt sich meine Trennung?
Wie zeigt sich mein Töten?

Die Antwort dazu finden wir nicht in unserem Kopf, nicht in unserer Biografie, sondern in unserem Körper, in unserem Zazen. Auf diesem kleinen Kissen üben wir mit jedem Ein/Aus Verbindung, Zusammenfügen, Brücken schlagen. Wir nähern uns dem Prinzip von Ursache und Wirkung auf die intimst möglichste Weise: indem wir erkennen, wir sind Ursache UND Wirkung zugleich. Immer.

Daher ist Zazen Friedensarbeit.
Diese war damals genauso wichtig wie heute. Und genau deswegen wird sie auch im kommenden Jahr so notwendig sein wie nie zuvor.
Für uns und für alle, die guten Willens sind.

Zwei Wochen lang
Verwandelt sich alles
in ein Abbild
von Shunyata
Friedlich
versöhnlich
gutlaunig
ebenmütig
und still
Wir atmen aus
Während die Welt
für uns den Atem anhält
Eigentlich ist es nur
kristallisiertes Wasser
Wir alle tragen es in uns
Schnee


Gassho, Juen

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