Call me by my true name
Obschon die Frage im Kontext des vorher Gesagten gestellt wurde, das sich mit dem Zusammenhang von Shunyata und Mitgefühl befasste und obgleich wir keine Regierung wie die in den USA erwarten, sind es dennoch Gedanken, die viele von uns hier beschäftigen: was vermag das Zen zu bewirken in unruhigen Zeiten wie diesen?
Zunächst einmal sollte ich die Erwartung daran, dass mein Handeln möglichst unmittelbare Folgen haben muss, überprüfen.
Zeit läuft nicht nur linear. Das ist eine der ersten und ausnahmsweise immer gültigen Wahrheiten jeder Meditationspraxis, insbesondere der unsrigen, die das stille Sitzen als Kern-und Angelpunkt betrachtet. Zeit fließt, hüpft, sie vergisst sich, sie verläuft zäh wie Sirup und sie rauscht dahin wie ein Wasserfall. Da dies bereits in einer einzigen Meditationseinheit geschieht, gilt es umso mehr für größere zeitliche Bögen.
Womit wir bei Vertrauen sind, einem weiteren Pfeiler unserer Praxis. Vertrauen in meinen Körper. Vertrauen in meine mir innewohnende, wenngleich allzu oft verborgene Intuition und Weisheit. Prajna ist Weisheit auf zellulärer Ebene.
Das ist eine gute Gelegenheit zu überprüfen: vertraue ich meinem Körper mehr als meinen Gedanken?
Handle ich auch danach?
Mein Körper weiß immer, wo er sich befindet. Er weiß auch, was rechte Handlung, rechte Rede und rechte Intuition ist. Er kann sie riechen, schmecken hören. Er merkt, wenn dies umgesetzt wird.
Interessanterweise spielen Gedanken hierbei nur eine Nebenrolle, denn meistens bemerken wir sie nach der Zeit, nach dem jeweiligen Moment.
Unser Kissen kann niemandem vor polarem Denken schützen. Es kann keinen Krieg verhindern, keinen Aggressor außerhalb unserer selbst befrieden.
Bedeutet dies, ich sollte mich auf meinen kleinen Sprengel zurückziehen und schauen, dass ich möglichst unbeschadet über die Runden komme?
Da dies mit zunehmender Übung leider auch nicht mehr durchgehend möglich ist, kann ich versuchen anzuerkennen:
Wir wünschen uns einfache Lösungen. Wir sind immer noch Herdenwesen. Wir lernen sehr langsam. Wir bevorzugen Verheißungen vor oft ernüchternden Wahrheiten, zumal wenn diese mit kurzfristigen eigenen Einschränkungen materieller Art verbunden sein könnten. Wir wollen manches gar nicht wissen. Sprache schafft Tatsachen.
So beunruhigend bis verstörend einiges derzeit sein mag: ein Blick auf die Geschichte des Zen zeigt, dass es schon immer derartige Zeiten gegeben hat.
Nichts daran ist schön. Nichts daran eignet sich zu einer spirituellen Verbrämung.
Im Angesicht extremer Veränderungen, des schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts und der globalen Auswirkungen selbst entferntester Handlungen auf mein Leben im 21. Jahrhundert, wird das kleine Kissen zu einem Bindeglied. Es verbindet die unfassbare Weite und Güte, die auch in mir steckt, mit dem Hässlichen und Polaren, das wir derzeit vielerorts sehen und hören.
In unserer 2500 Jahre alten Tradition hat es zahllose Vorbilder gegeben, die sich diesen Herausforderungen ebenfalls gestellt haben. Täglich, leise, unsichtbar, heute meist als Name vergessen.
Schwarz sendet keine Frequenz aus. Es produziert kein Karma. Wir können ihm daher vertrauen.
Und dem Ort, der uns spiegelt, was uns immer verfügbar ist und was alle Poren in Einklang zu bringen vermag: Stille, Weisheit und Mitgefühl sind es, die Klarheit bewirken und rechte Handlung walten lassen.
Zeiten wie diese stellen eine nicht unbedingt ersehnte, wenngleich unglaublich kostbare Gelegenheit dar, unsere Praxis täglich mit noch etwas mehr Nachdruck zu bezeugen und in sie zu vertrauen: ganz so, wie die Alten es taten, deren gute Medizin noch bis heute ihre heilsame Wirkung auf uns ausüben kann.
Nachruf
In der Januar-Ausgabe erscheint ein Nachruf auf Hozan Roshi (in englischer Sprache). Dieser wurde von Colleen Morton Busch verfasst, einer Zen-Schülerin, die auch das Buch über das Feuer in Tassajara geschrieben hat ("Fire Monks", erschienen 2019). Der Artikel bietet einen schönen Überblick über Hozans facettenreiches Dharma.
Gassho, Juen und Nanzan
Hozan Alan Senauke Roshi 1947 - 2024
Hozan war Abt des Berkeley Zen Centers und der Lehrer von Juen und Nanzan. Wir kannten uns seit den Zeiten unserer Ausbildung im "Great Vow Zen Monastery" in Oregon. Unsere Verbindung vertiefte sich anlässlich der "Dogen Conference", die 2010 in San Francisco stattfand und bei der Juen einen Vortrag hielt. Im folgenden Jahr war Hozan im Rahmen eines Kongresses seiner Heiligkeit des Dalai Lama in Hamburg und stattete uns einen Erstbesuch ab - um hier spontan eine Jukai-Zeremonie anzubieten und sich in vielen Gesprächen und Besuchen sehr interessiert an unserer Sangha und unseren Lebensgewohnheiten zu zeigen. Hozan kam in den Folgejahren regelmäßig. Er hielt die Augenöffnungszeremonie für unser jetziges Zendo und führte etliche Jukai-Zeremonien durch. Die Ordination von Juen und Nanzan fand in Musanji unter seiner Leitung statt.
Hozan hat uns beiden als Lehrer vor allem eines geschenkt: Vertrauen. Unter anderem in den Mut, unseren Wirkungskreis außerhalb des Zendos zu weiten und etwaige Hindernisse zunächst einmal als zu erforschende Herausforderung zu betrachten. Als wir uns nach der Gründung des Hospizvereins mit der Gründung eines stationären Hospizes beschäftigten, obschon wir mit dem Verein und in unseren beruflichen Hauptämtern bereits gut zu tun hatten, hörte er sich unsere Idee geduldig an und sagte dann, mit diesem ernst-neugierigem Lächeln: "If you think so…". Er hat danach unsere weiteren sozialen Aktivitäten interessiert begleitet.
Darin besaß er Erfahrung, denn abgesehen von seiner Liebe zur Musik, die ihn als professionellen Musiker nie verließ, war Hozan in vielen Welten unterwegs: er war über viele Jahre Geschäftsführer des "Buddhist Peace Fellowship", einer Organisation, die sich um sozial engagierten Buddhismus bemüht. Ferner hat er zehn Jahre lang das "Chaplaincy Program" im "Upaya Zen Center" mitgeprägt, das transkonfessionelle Seelsorgende ausbildet. Zeitlebens lagen ihm Indien und Burma am Herzen; er gründete eine Organisation, die sich unter anderem um die Schulbildung sozial benachteiligter Gruppen, wie zum Beispiel der Dalits oder der Rohingya bemühte.
All dies wäre nicht entstanden, wenn uns nicht Kaz Tanahashi in das Berkeley Zen Center und das San Francisco Zen Center eingeführt hätte. So steht jetzt in unserem Garten eine Weide, die Kaz gepflanzt hat, eine Kiefer, die Blanche Hartman gewidmet ist, ein Fels, den Sojun mochte und davor ein Raum, an dessen Potential Hozan immer geglaubt hat.
Hozan starb vor wenigen Tagen nach langer Krankheit. Wir können nur versuchen, seine Melodie fortan noch etwas weiterzutragen: für das Dharma. Um der Freiheit willen. Für die Liebe. Um aller Wesen Glück und Zufriedenheit.
Gassho, Juen und Nanzan
Der Kreis ist rund
Diese Stunden können wunderschön sein, sie können aber auch anstrengend oder bisweilen etwas fordernd sein. Da es insgesamt ein schwieriges Jahr war und die Unruhe und Verunsicherungen anhalten, haben wir uns in der Sangha über die tibetische Praxis des Tonglen ausgetauscht. Dabei hat uns vor allem die Praxis des Tonglen beschäftigt, welche die Lehrerin Pema Chödrön einmal mit "instant tonglen" bezeichnet hat.
Uns begegnet Unheilsames, Negatives: anstatt der habituellen Antwort des Zurückweichens integrieren wir diese unerwarteten Felsen in unseren Pfad der Befreiung. Das Ungewollte wird willentlich in die Übung integriert. Wir atmen das Unangenehme ein, wir atmen es wieder aus. Bereits in der Körperlichkeit des Ausatmens findet eine Verwandlung statt: wir geben ab, wir lassen ein bisschen los. Wir mögen Teil einer Situation sein, die uns nicht gefällt, wir sehen vielleicht etwas, das uns bedrückt, wir nehmen die eigene Enge wahr.
Das sind Gelegenheiten zu üben, es sind Möglichkeiten, in Verbindung zu treten, und sei es ein zum x-ten Mal registriertes Knäuel am Boden, über das wir uns jetzt nicht noch einmal aufregen, sondern dass wir jetzt einfach entsorgen: einatmen ausatmen, der Nächste, bitte. Die Praxis des Tonglen ermöglicht es uns, unser Leben ein wenig distanzierter zu betrachten und das Unangenehme, das nicht-Gewollte zunächst weder reflexartig zurückzuweisen, noch zu verbrämen, zu verleugnen oder zumindest spontan zu verurteilen. Es bedeutet, bevor dies natürlich auch geschieht, die ganze Chose erst einmal an- und auszuatmen.
Dieses Atmen kann die blauen Berge in Schwingung versetzen. Es kann Raum für Möglichkeiten entstehen lassen und Landschaften eröffnen, die uns bislang verborgen blieben. Diese Bewegung hin zu uns ist Prajna. Diese Schwingung durch uns hindurch ist Shunyata. In dem Moment, in dem Prajna und Shunyata einander zulächeln, entsteht eine Verbindung, die uns jede Furcht vergessen lassen wird.
Gassho, Juen