Chips und die große Klarheit

„Ich bin entschlossen, mich oder andere nicht zu betäuben, sondern Klarheit scheinen zu lassen.“

So lautet der fünfte der zehn großen Grundsätze für ein harmonisches Miteinander (Silas). In unserer Sangha gehen wir diese seit einer Weile durch.

Ursprünglich wird dieser Grundsatz oft in Richtung des Verzehrs von chemischen Drogen, u.a. auch Alkohol verstanden. Das ist zwar richtig, aber der Grundsatz ist weiter gefasst: welche Mittel verwende ich, um mich abzulenken, um mich aus dem gegenwärtigen Moment herauszuwinken?

Diese sind vielfältig: Essen, Medien, Tagträumen, ständig nach Vergnügen suchen, immer wieder die gleichen Geschichten erzählen (und aufbauschen), Nikotin, mich stets als Opfer darstellen, mich selbst schlecht machen und darin dauernd bestätigt sehen, mein Zazen statisch halten ...

Sie haben meist eines gemeinsam: der Moment eines Unwohlseins wird gedämpft durch die heute zahllosen und gesellschaftlich durchaus akzeptierten Formen der Ablenkung von dem, was ist.

Wie aber kann ich besser sein als gerade jetzt?

Was halte ich nicht aus? Was sind das für Empfindungen, die mich die Rückkehr zur Ignoranz und Naivität vorziehen lassen?

Sind es die großen Dinge oder, am Ende eines langen Tages, das „Steinchen im Schuh?“. Ist die erste Wahrnehmung körperlich oder seelisch?
Was an ihr ist so unangenehm?

Nichts ist falsch an einem gemütlichen Fernsehabend mit Chips. Oder an einem schnellen Surf durch meine Lieblingsseiten. In Bezug auf unsere Praxis konzentrieren wir uns auf den ersten Schritt dahin – da ist eine Empfindung, eine Unbewohnbarkeit, eine Intoleranz für diesen Moment – und Sekunden später greife ich zu meiner Form der Flasche. Wie geschieht dies? Wie fühle ich mich hinterher?

Die Bereitschaft, mich dem allem zuzuwenden, den Grundsatz der Klarheit über mein Tun zu kultivieren, das ist der Grundsatz des Nicht-Betäubens.

Betäubende Mittel wurden nicht hineingebracht. Lasst sie nicht herein. Das ist das Große Licht.
(Dogen Zenji)


Gassho, Juen


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Vom Glück im Auge des Betrachtenden

Im Rahmen unserer Beschäftigung mit den Grundsätzen für ein harmonisches Miteinander (Silas) haben wir versucht, in diesen einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Dieser könnte so lauten: „Ich gelobe, nicht auf Kosten anderer zu leben, sondern mich liebevoll um das Leben zu kümmern.“

Das entspricht nicht der Blickrichtung, die wir im Alltag meistens einschlagen. Hier fragen wir eher von uns aus:
Was möchte ich?
Was bringt es mir?
Wie komme ich am schnellsten dahin?

In unserer Praxis lautet die Frage auch anders: was braucht das Leben, was braucht mein Leben gerade? Das ist nicht deckungsgleich mit dem, was „ich will und möchte“.
Gleichzeitig verneint es weder meine Bedürfnisse noch Wünsche.

Es bietet vielmehr eine weitere Aussicht an:
Was fragt das Leben jetzt von mir?
Was erzählen mir die „10.000 Dinge“?

Es ist zu erwarten (und eine Erfahrung des Zazen), dass die Antworten, die ich hier finde, sich von denen unterscheiden werden, wenn ich mich selbst als alleinigen Referenzpunkt betrachte.

Wenn die Fragen des Lebens und meine eigenen deckungsgleich werden, kann ich tanzen wie die Steinfrau, bin ich sorglos wie Ryōkan, kann ich vom Dunkeln in das Licht des Tages reisen, ohne auch nur einmal zu blinzeln.

Gassho, Juen

Es gibt einen leichten Weg, um ein Buddha zu werden:
Wenn Du nichts Böses begehst, nicht an Leben und Tod hängst und ein herzinniges Mitempfinden gegenüber allen Wesen verspürst, Dich den Älteren gegenüber respektvoll und den Jüngeren gegenüber freundlich verhältst, nichts außen vor lässt oder nach etwas strebst, im Herzen urteilsfrei und unbesorgt bleibst, dann wirst Du ein Buddha genannt werden. Suche nichts anderes.
Dogen Zenji, Shōbōgenzō Shōji

Übersetzung aus dem Originaltext: Kazuaki Tanahashi und Friederike Boissevain, © 2009


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Zeig Dich!

Seit einer Weile beschäftigen wir uns mit den Silas, den Grundsätzen für ein gesundes Miteinander. Die Silas stellen sowohl Ethikkodex, Wegweiser, Prinzip und Kompass für ein gutes Leben, für die Verminderung und schlussendlich die Beendigung des Leidens dar. Sie sind in der Traditionslinie, in der wir üben, das Kostbarste, das wir weitergeben können.
Dabei stellen sie nicht die Übermittlung großartiger Erleuchtungserfahrungen dar. Zum Abschluss erhält niemand eine Brokatrobe. Gleichwohl führt ihr lebenslanges Studium unweigerlich zu einem klaren und glücklicheren Leben.

In unserer Tradition haben wir 16 Grundsätze. Das Vierte der „10 Großen Grundsätze eines Bodhisattvas“ lautet:
„Ich bin entschlossen, nicht zu lügen, sondern die Wahrheit zu sagen.“

Alle von uns haben Ansagen in der Kindheit erhalten, nicht zu lügen.
Gleichwohl sind wir im Erwachsenenleben umzingelt von Lügen. Von Versprechen der Politik, der Medien oder der Werbeindustrie – es wird dauernd die Realität gebogen.
Auch ein Verbrämen dessen, was ist – oder zu erwarten ist - stellt eine Form der Lüge dar. Das Gleiche gilt für ein Weglassen wichtiger Aspekte.
Eine Lüge verändert eine Situation, um uns selbst oder das, was wir favorisieren, vorteilhafter aussehen zu lassen.

Eine Lüge beruht immer auf einem Mangel. Eine Lüge beruht auf Angst. Meiner Angst, vor dem, was ist. Meiner Angst, dass etwas nicht genug sein könnte: so, wie es jetzt ist. Meiner Angst, dass ich dieses oder jenes benötige, um mich sicherer, reicher, schöner oder mächtiger zu fühlen. Es ist die Angst vor Verlust, die Lügen treibt. Es ist die Angst vor Veränderung, die sie unterhält. Und es ist die Furcht voreinander, die uns unter ihnen leiden lässt.

Dabei tragen wir alle noch jenes Kind in uns, das den Kaiser als nackt erkennt und ihn genauso anspricht. Dabei wissen wir aus der Erfahrung des Zazen, wie unendlich befreiend es sein kann, nicht mehr vorhalten, aufrechterhalten und vorgeben zu müssen. Sondern alles so anschauen und benennen zu dürfen, wie es eben ist.
Denn nur dann können die Blumen der Klarheit aus unseren Schritten wachsen.

Wir im 21. Jahrhundert, die über so viel mehr an Wissen, Macht und Potential in alle Richtungen verfügen, sind es uns und den Altvorderen schuldig – aber vor allem denen, die nach uns kommen, endlich mehr Klarheit scheinen zu lassen. Für unser aller anhaltendes Wohl. Diese Tür ruft uns heute mehr denn je. Sie steht weit offen.

Das Rad des Dharmas dreht sich von Anfang an. Da ist weder ein zu viel noch ein zu wenig – weder Überschuss noch Mangel. Das gesamte Universum wird durch den Tau des Nektars benetzt und die Wahrheit steht reif zur Ernte.
- Dogen Zenji -

Gassho, Juen


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Neue Saiten

Nun ist das Jahr des Drachens schon ein paar Takte alt. Ich weiß nicht, wie es den werten Leserinnen und Lesern ergangen ist: auf unserer Seite hat es fauchend begonnen und es scheint so, als ob das unseren aktuellen Zeiten entspricht. Vorbei scheinen die Tage, in denen die ersten beiden Wochen des jungen Jahres eher besonnen, wenn nicht sogar etwas beschaulich anliefen und die Spanne zwischen den Jahren sozusagen eine garantierte Zeit der Reflexion eröffnete.

Umso wichtiger, wenn die äußeren Räume es nicht direkt vorgeben können, ist es, mir meine Konstanten und Ruhepole zu suchen und sie zur Routine werden zu lassen. Zu einem Ort, an dem ich weder sein muss noch haben, an dem ich Gemeinschaft erfahren kann und von anderen lernen darf. Die Sangha ist ein derartiger Ort. Eine Gemeinschaft der Stille stellt eine faszinierend stabile, zugleich intime Form des Zusammenseins dar.

Bei allen Vorzügen, die wir dem „Zoom-Zen“, verstärkt durch die Corona-Jahre, verdanken: die Präsenz miteinander in einem Zendo zu teilen, das ist die „reine klare Farbe unserer Übung, der wahre Geist und Körper des Vertrauens“.

Kurszentren, so wichtig sie insgesamt sind und so unterstützend es sein kann (und auch ein bisschen fordernd), mich einem vorgegebenen Tagesplan anzuvertrauen, Mittel beiseite zu stellen und über ein paar Tage in Folge auf dem Kissen in eine Tiefe zu gehen, die ein Abend in der Woche nicht erreichen kann - in meiner Wahrnehmung sind Tagungshäuser nur eine Seite des Mondes.

Wir alle leben nicht dort. Auf die Zeit zwischen den Retreats kommt es an.
Eine wöchentliche Gemeinschaftspraxis, so klein und improvisiert sie auch sein mag, das sind Orte, von denen unsere Übung diffundieren kann wie kleine Priele, die sich zu den Strömen im Dunkeln aus dem Sandokai zusammenschließen.

Was also haben wir dieses Jahr zu tun?

1. Die Gemeinschaft zu stärken – durch unsere Anstrengung. Zen ist eine Gemeinschaftsübung, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht so aussehen mag.

2. Zen ist eine Körperpraxis und bekanntlich tragen wir diesen immer mit uns. Es gibt daher keinen Grund, nicht immer zu üben (stehend, liegend, sitzend oder gehend...)

3. Wir üben jede und jeder für sich. In Zeiten, in denen auch in das Zen psychologische Aspekte einfließen, kann in Vergessenheit geraten, dass dies nur einen Anfang darstellt. Das „ich“ ist ein Posten auf unserem Weg. Zugegebenermaßen ein etwas größerer Posten, um den wir nicht umhinkommen. Wenn wir dabeibleiben, wird sich dieses „ich“ ausdehnen, es erscheint mit zunehmenden Praxisjahren einfach überall. Dies wiederum hat Auswirkungen auf das einzelne Ich, denn nur in diesen vielfältigen Verbindungen ist es möglich, dass sich eine einzelne Steinfrau erhebt und tanzt, dass ein Holzmann zu singen beginnt. Wenn wir in den Wolken um unser Befinden, um unsere Erleuchtung stecken bleiben, werden wir niemals die Freude der gesamten Aussicht kosten können. Oder die Leichtigkeit unseres Gepäcks, das um die Last der Tränen der Welt weiß und sie dennoch auf der Spitze des kleinen Fingers halten kann – gespannt und neugierig darauf, was der nächste Augenblick für mich bereithält.

Gassho, Juen


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