Flieg!
02.12.2024
Auf den ersten Blick mag die strikte Übung des Zen mit seiner überlieferten präzisen Formgebung und seiner Ästhetik der Reduktion wenig mit Kreativität, Imagination und Phantasie zu tun haben.
Jede spirituelle Praxis, die ehrlich genug ist, sich als Teil einer Religion zu begreifen, kann engherzig werden in ihrem Streben, die Gesellschaft zu fördern und das Individuum zu motivieren.
In jeder dieser Gemeinschaften blüht auch immer die glühende Kohle von Wildem, Mystischem, Kreativem.
Imagination erweitert unsere Herzen und unseren Kopf. Neuerungen, moralische Visionen, Hilfsbereitschaft, Liebe, Idealismus, Vertrauen – alles Vorgänge, bei denen unsere Vorstellungskraft über das offensichtlich Wahrgenommene hinausgeht.
In unserer Zen-Praxis sind wir selbst aufgerufen, unser Leiden zu erfassen, es stetig zu ergründen, es zu verwandeln. Keine omnipotente Übereinheit hilft uns dabei.
Wir leiden auch, weil uns die Imagination fehlt, die Dinge so zu betrachten und zu erfahren, wie sie wirklich sind.
Im Mahayana erhalten wir das Angebot, unsere Imagination zu neuen Höhen aufzuschwingen: wir wenden den Blick von uns ab und öffnen ihn für andere, für alles andere. Buddha als kosmisches Prinzip: das Mit-Sein mit allem wird zentral.
Die Welt steht niemals still. Sie ist nie fixiert.
Ein Bodhisattva verschwendet zunehmend weniger Energie darauf, ständig zu erdenken, wie die Welt in seinen oder ihren Augen auszusehen hat.
Unsere Imagination ist dabei wie eine Sommerbrise, die lockert, was starr und kalt erscheint. Sie stellt die Fähigkeit der Erfahrung von zunehmendem Vertrauen dar. Von grenzenlosem Vertrauen in die Möglichkeiten, in das Potential des jeweiligen Augenblicks.
Wir üben Zazen. Wir üben auch: die natürliche Fülle des Seins zu schätzen, seine inhärente Großzügigkeit von Zeit und Raum. Das Leben an sich gibt immer. Es ist niemals geizig oder kleinkariert, niemals dogmatisch oder berechnend.
Wir müssen unser Leben nicht ständig erschaffen und regulieren. Wir können es lassen, uns lassen.
Warum sind wir nicht so großzügig wie ein Baum?
Warum können wir nicht an jedem und allem Interesse zeigen?
Warum kümmern wir uns nicht einfach, wenn es die Situation gebietet?
Warum verbreiten wir nicht unser bestes Mitgefühl, warum üben wir es nicht wie unser Zazen, wie unseren Atem?
Wir unterliegen zu oft der Fehlwahrnehmung, "für uns" zu üben. Dabei ist das ein Irrtum.
Unser Mit-Sein stellt nicht nur unsere größte Imaginationsleistung dar, es ist gleichermaßen die Quelle für anhaltende Freude und Zufriedenheit.
Mitgefühl schafft Vertrauen. Vertrauen schafft den Eindruck, auf mich kommt es an.
Denn dass wir einander haben, immer noch und gerade auch in der Neige zu diesem schwierigen Jahr, ist ein großes Geschenk. Es ist vorübergehend. Einzigartig.
Allein die Vorstellung, jetzt zueinander fliegen zu können! Und es dann auch tatsächlich zu tun.
Gassho,
Juen
Jede spirituelle Praxis, die ehrlich genug ist, sich als Teil einer Religion zu begreifen, kann engherzig werden in ihrem Streben, die Gesellschaft zu fördern und das Individuum zu motivieren.
In jeder dieser Gemeinschaften blüht auch immer die glühende Kohle von Wildem, Mystischem, Kreativem.
Imagination erweitert unsere Herzen und unseren Kopf. Neuerungen, moralische Visionen, Hilfsbereitschaft, Liebe, Idealismus, Vertrauen – alles Vorgänge, bei denen unsere Vorstellungskraft über das offensichtlich Wahrgenommene hinausgeht.
In unserer Zen-Praxis sind wir selbst aufgerufen, unser Leiden zu erfassen, es stetig zu ergründen, es zu verwandeln. Keine omnipotente Übereinheit hilft uns dabei.
Wir leiden auch, weil uns die Imagination fehlt, die Dinge so zu betrachten und zu erfahren, wie sie wirklich sind.
Im Mahayana erhalten wir das Angebot, unsere Imagination zu neuen Höhen aufzuschwingen: wir wenden den Blick von uns ab und öffnen ihn für andere, für alles andere. Buddha als kosmisches Prinzip: das Mit-Sein mit allem wird zentral.
Die Welt steht niemals still. Sie ist nie fixiert.
Ein Bodhisattva verschwendet zunehmend weniger Energie darauf, ständig zu erdenken, wie die Welt in seinen oder ihren Augen auszusehen hat.
Unsere Imagination ist dabei wie eine Sommerbrise, die lockert, was starr und kalt erscheint. Sie stellt die Fähigkeit der Erfahrung von zunehmendem Vertrauen dar. Von grenzenlosem Vertrauen in die Möglichkeiten, in das Potential des jeweiligen Augenblicks.
Wir üben Zazen. Wir üben auch: die natürliche Fülle des Seins zu schätzen, seine inhärente Großzügigkeit von Zeit und Raum. Das Leben an sich gibt immer. Es ist niemals geizig oder kleinkariert, niemals dogmatisch oder berechnend.
Wir müssen unser Leben nicht ständig erschaffen und regulieren. Wir können es lassen, uns lassen.
Warum sind wir nicht so großzügig wie ein Baum?
Warum können wir nicht an jedem und allem Interesse zeigen?
Warum kümmern wir uns nicht einfach, wenn es die Situation gebietet?
Warum verbreiten wir nicht unser bestes Mitgefühl, warum üben wir es nicht wie unser Zazen, wie unseren Atem?
Wir unterliegen zu oft der Fehlwahrnehmung, "für uns" zu üben. Dabei ist das ein Irrtum.
Unser Mit-Sein stellt nicht nur unsere größte Imaginationsleistung dar, es ist gleichermaßen die Quelle für anhaltende Freude und Zufriedenheit.
Mitgefühl schafft Vertrauen. Vertrauen schafft den Eindruck, auf mich kommt es an.
Denn dass wir einander haben, immer noch und gerade auch in der Neige zu diesem schwierigen Jahr, ist ein großes Geschenk. Es ist vorübergehend. Einzigartig.
Allein die Vorstellung, jetzt zueinander fliegen zu können! Und es dann auch tatsächlich zu tun.
Gassho,
Juen
November im Benediktushof
08.11.2024
Kürzlich ging Juen's Zen-Seminar "Gebrochen und doch heil" am Benediktushof zu Ende. Obschon die Gartenanlagen still geworden sind und die Steine im Zengarten ein bisschen nach Frost zu riechen scheinen, herrschte am Hof ein reges Treiben von beginnenden und endenden Kursen, Vorbereitungen auf das ausgebuchte Wochenendseminar und Planungen für die Kurse der kommenden Woche.
Es ist beachtlich, was das Team des Hofes im Hintergrund seit vielen Jahren bewerkstelligt und wie es gelingt, trotz aller Betriebsamkeit und auch Effizienzbestrebungen, einen solide ruhenden Ort des Rückzugs zu schaffen, für alle, die in besuchen kommen möchten.
Es war ein guter Kurs mit einer beeindruckenden Bereitschaft der Teilnehmenden, sich berühren zu lassen.
Wir sind auch ein bisschen stolz darauf, dass Wind und Wolken in diesem Novemberhofgeschehen so gut vertreten war!
Über das Zazen des Ahornlichtes
03.11.2024
Wir befinden uns in den letzten beiden Monaten des Jahres. Die Blätter stieben, der Garten wird leiser. Mit dem Rückzug der Natur und den längeren Abenden halten wir Rückschau: was war das für ein Jahr?
Was war wichtig?
Was ist wichtig? Was in meinem Leben ist mir wichtig?
Beziehungen, ja. Berufliche Zufriedenheit, ja. Eine gewisse materielle Freiheit, ja.
Als spirituell Übende tun wir gut daran, uns einmal mitten in unserem Alltag zu fragen: was tue ich gerade (innerlich)? Mache ich den bestmöglichen Gebrauch meiner Zeit?
Oder mich abends zu fragen: bin ich dem etwas nähergekommen, was mir, tief unten, wirklich wichtig ist?
Erwachen ist überall. So wie die Kunst. Es muss nicht der Marktplatz von Nizza sein, das Licht von Matisse. Der Hinterhof einer Neubausiedlung kann genauso Ausgangspunkt sein für eine malerische Reise. Der Mond spiegelt sich in jedem Tautropfen.
Auch das ist Freisein: mit dem allerorts verfügbaren, überreichen Erwachen an jeder Ecke in Berührung kommen zu können.
Was tun wir, wenn wir erkennen, dass wir gerade in einer Wüste der opponierenden Stürme gefangen gehalten werden, wenn wir „auf Autopilot“ sind und sich unser Körper anfühlt wie in einem Schraubstock?
Eine der Möglichkeiten: Pausen schaffen. Wir machen drei bewusste Atemzüge und geben unserem Kopf die Gelegenheit, die Welt sich uns wieder eröffnen zu lassen.
Diesen Raum gibt es immer, gerade in einer changierenden Jahreszeit wie jetzt: Wind, Licht, Wiesen, Laub, Luft: wie oft komme ich damit in Berührung? Erlaube ich auf alltäglicher Basis, dass dieser Raum Einzug hält in meine Sichtweise auf die Dinge?
Pausen, Raum, Weite, Möglichkeit, Wahl, Potential: das sind die Grundlagen des Zazen. Wenn wir diese Zeit nicht mit unserem diskursiven Denken, unserem sich Sorgen, unserem besessen sein von allem Möglichen anfüllen, können wir die Zeit genießen für die wartenden Wohltaten unserer Umgebung.
Natürlich haben wir alle viel zu tun. Wir leben weder in einem Kloster noch in einem Kurszentrum. Unsere Tage bestehen aus einer raschen Abfolge von Detailfragen, die gelöst werden möchten. Wir haben komplexe Rollen und Verpflichtungen inne, wir tragen vielfältige Verantwortungen. Wir müssen uns zeigen, wir müssen liefern, wir haben Vorgaben zu erfüllen.
Wenn wir jedoch dieser Pause eine Chance geben, ist es unbedeutend, ob wir Zazen sitzen, am PC, in der Konferenz oder mit einem Patienten. Wie lang muss diese Pause sein? Eine Ewigkeit: ... drei Sekunden. Denn in dieser Pause gibt es keine Zeit.
Dieser Raum ist das Tor zu unserer natürlichen Intelligenz. Sie erscheint, wenn das Rauschen versiegt. Sie weiß und kann. Sie löst und tröstet. Sie reicht weit zu uns hinüber und sie lacht.
Mit zunehmender Praxis werden diese Räume wachsen. Zuerst sind es nur ein paar Himmelsluken, später bilden sie ein Kontinuum. Sie werden es, die unseren Tag bestimmen.
Wir sollten daran arbeiten, Momente zu finden, wo wir uns mit dem Himmel verbinden, dem Meer und den Vögeln und dem Land und den zahllosen Wohltaten jenseits von uns selbst.
Denn diese Räume machen glücklich. Und ist es nicht auch das, was uns wichtig ist?
Gassho,
Juen
Was war wichtig?
Was ist wichtig? Was in meinem Leben ist mir wichtig?
Beziehungen, ja. Berufliche Zufriedenheit, ja. Eine gewisse materielle Freiheit, ja.
Als spirituell Übende tun wir gut daran, uns einmal mitten in unserem Alltag zu fragen: was tue ich gerade (innerlich)? Mache ich den bestmöglichen Gebrauch meiner Zeit?
Oder mich abends zu fragen: bin ich dem etwas nähergekommen, was mir, tief unten, wirklich wichtig ist?
Erwachen ist überall. So wie die Kunst. Es muss nicht der Marktplatz von Nizza sein, das Licht von Matisse. Der Hinterhof einer Neubausiedlung kann genauso Ausgangspunkt sein für eine malerische Reise. Der Mond spiegelt sich in jedem Tautropfen.
Auch das ist Freisein: mit dem allerorts verfügbaren, überreichen Erwachen an jeder Ecke in Berührung kommen zu können.
Was tun wir, wenn wir erkennen, dass wir gerade in einer Wüste der opponierenden Stürme gefangen gehalten werden, wenn wir „auf Autopilot“ sind und sich unser Körper anfühlt wie in einem Schraubstock?
Eine der Möglichkeiten: Pausen schaffen. Wir machen drei bewusste Atemzüge und geben unserem Kopf die Gelegenheit, die Welt sich uns wieder eröffnen zu lassen.
Diesen Raum gibt es immer, gerade in einer changierenden Jahreszeit wie jetzt: Wind, Licht, Wiesen, Laub, Luft: wie oft komme ich damit in Berührung? Erlaube ich auf alltäglicher Basis, dass dieser Raum Einzug hält in meine Sichtweise auf die Dinge?
Pausen, Raum, Weite, Möglichkeit, Wahl, Potential: das sind die Grundlagen des Zazen. Wenn wir diese Zeit nicht mit unserem diskursiven Denken, unserem sich Sorgen, unserem besessen sein von allem Möglichen anfüllen, können wir die Zeit genießen für die wartenden Wohltaten unserer Umgebung.
Natürlich haben wir alle viel zu tun. Wir leben weder in einem Kloster noch in einem Kurszentrum. Unsere Tage bestehen aus einer raschen Abfolge von Detailfragen, die gelöst werden möchten. Wir haben komplexe Rollen und Verpflichtungen inne, wir tragen vielfältige Verantwortungen. Wir müssen uns zeigen, wir müssen liefern, wir haben Vorgaben zu erfüllen.
Wenn wir jedoch dieser Pause eine Chance geben, ist es unbedeutend, ob wir Zazen sitzen, am PC, in der Konferenz oder mit einem Patienten. Wie lang muss diese Pause sein? Eine Ewigkeit: ... drei Sekunden. Denn in dieser Pause gibt es keine Zeit.
Dieser Raum ist das Tor zu unserer natürlichen Intelligenz. Sie erscheint, wenn das Rauschen versiegt. Sie weiß und kann. Sie löst und tröstet. Sie reicht weit zu uns hinüber und sie lacht.
Mit zunehmender Praxis werden diese Räume wachsen. Zuerst sind es nur ein paar Himmelsluken, später bilden sie ein Kontinuum. Sie werden es, die unseren Tag bestimmen.
Wir sollten daran arbeiten, Momente zu finden, wo wir uns mit dem Himmel verbinden, dem Meer und den Vögeln und dem Land und den zahllosen Wohltaten jenseits von uns selbst.
Denn diese Räume machen glücklich. Und ist es nicht auch das, was uns wichtig ist?
Gassho,
Juen
Über die Freiheit der Leere
20.10.2024
Im Herzsutra heißt es:
„Oh, Shariputra, Grenzenlosigkeit ist aller Dinge wahre Natur. Sie entstehen weder noch vergehen sie, sie sind weder unrein noch rein, weder zu- noch abnehmend.
Leere ist nicht beschränkt durch Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden.
Sie ist frei von Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, frei von Form, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung, Gedankeninhalt, frei von der Welt der Sinne und der Welt des Geistes.
Sie ist frei von Nichtwissen und dem Ende des Nichtwissens.
Leere ist frei von Alter und Tod, frei vom Ende von Alter und Tod.“
Und so wurde vor zweitausend Jahren die seit in etwa fünf Jahrhunderten elaborierte buddhistische Lehrmeinung mit einem Federstrich in Frage gestellt...
Leerheit, so wird hier ausgeführt, ist nichts von dem, was bis dato als die Grundfeste der Lehre Buddhas verstanden wurde: die drei Siegel des Buddhismus, zum Beispiel.
Vergänglichkeit (anicca), Leiden (dukkha), Nicht-Selbst (anatta).
Im Herzsutra aber heißt es: „frei von Entstehen und Vergehen, frei von unrein oder rein, frei von zu- oder abnehmendem Selbst.“
Shunyata ist weder beengt durch eine Vorstellung der Drei Siegel, noch durch irgendeine andere Lehrmeinung. Shunyata ist vielmehr: reine Zazen-Erfahrung. Mit Worten ist diese nur annähernd zu beschreiben, zumindest nicht als Prosa.
Und wenn wir uns an dieses Tor zur Befreiung erinnern, dann macht all das scheinbar Paradoxe in diesem ehrwürdigen Urtext auf einmal Sinn: natürlich gibt es Formen. Aber wenn wir uns auf unsere Erfahrung der eigenen Form berufen, haben wir Momente erlebt, in denen es schwer war, zu sagen, wo wir beginnen und enden. Und sind wir nicht gerade heute in unserem Zazen 20, 30 Jahre zurückgereist? Und war diese Erfahrung nicht „echt“? Gehört die Luft, die ich einatme, zu meiner Form? Was ist mit der Pizza von gestern? Der Bank, auf der ich gerade sitze?
Auch das gehört zur Leere wie auch zur Lehre: Verunsicherung. Fragen. Fragen stehen lassen und sie beobachten. Mich durch Fragen bewegen, erschüttern und transformieren lassen. Zur Frage werden, bis es keine Frage mehr gibt.
Mich der großen Frage meines Lebens widmen, wissend, dass ich sie niemals werde in Worten beantworten können.
Außer durch meine Begegnung mit ihr.
In der einen großen Frage, die sich „mein Leben“ nennt.
Dank unserer Praxis wird es zu „Leben“ werden: einem Dasein, in dem vor allem meine Begegnungen, meine Berührungen, meine Brückenschläge es sind, die Form und Leere ein Gesicht, ein Lächeln und eine Würde verleihen, die alle Fragen nach Sein und Nicht-Sein in Vergessenheit treten lassen wird.
„Oh, Shariputra, Grenzenlosigkeit ist aller Dinge wahre Natur. Sie entstehen weder noch vergehen sie, sie sind weder unrein noch rein, weder zu- noch abnehmend.
Leere ist nicht beschränkt durch Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden.
Sie ist frei von Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, frei von Form, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung, Gedankeninhalt, frei von der Welt der Sinne und der Welt des Geistes.
Sie ist frei von Nichtwissen und dem Ende des Nichtwissens.
Leere ist frei von Alter und Tod, frei vom Ende von Alter und Tod.“
Und so wurde vor zweitausend Jahren die seit in etwa fünf Jahrhunderten elaborierte buddhistische Lehrmeinung mit einem Federstrich in Frage gestellt...
Leerheit, so wird hier ausgeführt, ist nichts von dem, was bis dato als die Grundfeste der Lehre Buddhas verstanden wurde: die drei Siegel des Buddhismus, zum Beispiel.
Vergänglichkeit (anicca), Leiden (dukkha), Nicht-Selbst (anatta).
Im Herzsutra aber heißt es: „frei von Entstehen und Vergehen, frei von unrein oder rein, frei von zu- oder abnehmendem Selbst.“
Shunyata ist weder beengt durch eine Vorstellung der Drei Siegel, noch durch irgendeine andere Lehrmeinung. Shunyata ist vielmehr: reine Zazen-Erfahrung. Mit Worten ist diese nur annähernd zu beschreiben, zumindest nicht als Prosa.
Und wenn wir uns an dieses Tor zur Befreiung erinnern, dann macht all das scheinbar Paradoxe in diesem ehrwürdigen Urtext auf einmal Sinn: natürlich gibt es Formen. Aber wenn wir uns auf unsere Erfahrung der eigenen Form berufen, haben wir Momente erlebt, in denen es schwer war, zu sagen, wo wir beginnen und enden. Und sind wir nicht gerade heute in unserem Zazen 20, 30 Jahre zurückgereist? Und war diese Erfahrung nicht „echt“? Gehört die Luft, die ich einatme, zu meiner Form? Was ist mit der Pizza von gestern? Der Bank, auf der ich gerade sitze?
Auch das gehört zur Leere wie auch zur Lehre: Verunsicherung. Fragen. Fragen stehen lassen und sie beobachten. Mich durch Fragen bewegen, erschüttern und transformieren lassen. Zur Frage werden, bis es keine Frage mehr gibt.
Mich der großen Frage meines Lebens widmen, wissend, dass ich sie niemals werde in Worten beantworten können.
Außer durch meine Begegnung mit ihr.
In der einen großen Frage, die sich „mein Leben“ nennt.
Dank unserer Praxis wird es zu „Leben“ werden: einem Dasein, in dem vor allem meine Begegnungen, meine Berührungen, meine Brückenschläge es sind, die Form und Leere ein Gesicht, ein Lächeln und eine Würde verleihen, die alle Fragen nach Sein und Nicht-Sein in Vergessenheit treten lassen wird.
Form und Leere
20.10.2024
Noch immer erfreuen wir uns in unserer Sangha am Studium des Herzsutras:
...“Oh, Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist Leere; Leere ist Form. So ist es mit Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden“.
Hier listet Shariputra die fünf Aspekte der menschlichen Existenz auf (skandhas), die im Deutschen auch mit „Aggregaten“ oder „Daseinsgruppen“ übersetzt werden.
Zweifelsohne haben wir eine bestimmte Gestalt, eine Form. Wir haben Empfindungen, wir geben unseren Wahrnehmungen einen Namen. Wir streben nach bestimmten Dingen und Aspekten. Wir sind in der Lage, Zusammenhänge, die sich unserer direkten Wahrnehmung entziehen, voneinander zu entscheiden. Wir bilden bestimmte Werte aus, wir formen eine innere Haltung.
Was daran ist „leer“?
Diese Leerheit ist keine keimfreie Ödnis. Sie ist auch nicht ohne „etwas“. Sie ist nur frei von etwas. Einem unveränderbaren Kern, zum Beispiel.
Von außen betrachtet, ist unser Gefühlsmodus vielleicht meistens gleich. Wir stehen auf, machen uns fertig, gehen zur Arbeit, telefonieren, sprechen mit vielen Menschen, freuen uns auf dem Nachhauseweg an der Herbstfärbung oder auf den Feierabend.
Ein normaler Tag.
Wenn wir aber still werden, so leise wie im Zazen, dann können wir unsere jeweilige Klangfarbe oft ganz anders erleben als im Rauschen der vielen Handgriffe, die nun einmal unseren Alltag formen. Vielleicht überkommt uns eine burgundfarbene Melancholie oder ein ungeahntes Ausmaß an Schwermut. Vielleicht auch eine unbändige Freude. Dies geschieht einfach, es ist plötzlich da, kommt aus der Stille wie der Mond hinter den Wolken. Ohne dass wir beide Empfindungen mit einem Anlass in Zusammenhang bringen können. Sie verweilen etwas bei uns, wir schwingen mit – und dann verklingen sie. Wenn wir noch stiller werden, stellen wir fest, dass diese Klangfarben in nur einer Meditationseinheit eng beieinander liegen können. Dann geht der Gong und wir sind wieder „ich“. So wie „immer“. Wirklich?
In Wahrheit sind wir nie gleich, weder als Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen noch Unterscheiden.
Wir sind auch nicht einmal „leer“ und einmal „reich an allem, was es gibt“. Wir verfehlen Shunyata, wenn wir den Theorien Glauben schenken (und derer gibt es einige), dass wir danach streben sollten, „leer“ von irgendetwas zu sein, am besten von uns selbst. Dies würde bedeuten, dass wir an der geistigen Landkarte der Wirklichkeit festhalten und das Konzept der Leerheit darüberlegen. Einer Leere, die oft eine negative Konnotation aufweist.
Es ist nicht: ich hier, als (armselige) Gestalt. Das zu Erstrebende dort, als Nicht-Sein. Wir hier im Jammertal der Dinge und Formen. Die wenigen Auserwählten dort, im Himmelblau des Absoluten.
Kurz bevor Zen Meister Ninakawa starb, besuchte ihn Zen Meister Ikkyu.
„Soll ich Dich anleiten?“ fragte Ikkyu.
Ninakawa antwortete: „Allein kam ich her. Allein gehe ich. Welche Hilfe könntest Du mir geben?“
Ikkyu antwortete: „Wenn Du denkst, dass Du wirklich kommst und gehst, ist dies Deine Verblendung. Erlaube mir, Dir den Pfad zu zeigen, auf dem es weder Kommen noch Gehen gibt.“
Mit diesen Worten zeigte Ikkyu den Weg so klar, dass Ninakawa lächelte und verschied.
...“Oh, Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist Leere; Leere ist Form. So ist es mit Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden“.
Hier listet Shariputra die fünf Aspekte der menschlichen Existenz auf (skandhas), die im Deutschen auch mit „Aggregaten“ oder „Daseinsgruppen“ übersetzt werden.
Zweifelsohne haben wir eine bestimmte Gestalt, eine Form. Wir haben Empfindungen, wir geben unseren Wahrnehmungen einen Namen. Wir streben nach bestimmten Dingen und Aspekten. Wir sind in der Lage, Zusammenhänge, die sich unserer direkten Wahrnehmung entziehen, voneinander zu entscheiden. Wir bilden bestimmte Werte aus, wir formen eine innere Haltung.
Was daran ist „leer“?
Diese Leerheit ist keine keimfreie Ödnis. Sie ist auch nicht ohne „etwas“. Sie ist nur frei von etwas. Einem unveränderbaren Kern, zum Beispiel.
Von außen betrachtet, ist unser Gefühlsmodus vielleicht meistens gleich. Wir stehen auf, machen uns fertig, gehen zur Arbeit, telefonieren, sprechen mit vielen Menschen, freuen uns auf dem Nachhauseweg an der Herbstfärbung oder auf den Feierabend.
Ein normaler Tag.
Wenn wir aber still werden, so leise wie im Zazen, dann können wir unsere jeweilige Klangfarbe oft ganz anders erleben als im Rauschen der vielen Handgriffe, die nun einmal unseren Alltag formen. Vielleicht überkommt uns eine burgundfarbene Melancholie oder ein ungeahntes Ausmaß an Schwermut. Vielleicht auch eine unbändige Freude. Dies geschieht einfach, es ist plötzlich da, kommt aus der Stille wie der Mond hinter den Wolken. Ohne dass wir beide Empfindungen mit einem Anlass in Zusammenhang bringen können. Sie verweilen etwas bei uns, wir schwingen mit – und dann verklingen sie. Wenn wir noch stiller werden, stellen wir fest, dass diese Klangfarben in nur einer Meditationseinheit eng beieinander liegen können. Dann geht der Gong und wir sind wieder „ich“. So wie „immer“. Wirklich?
In Wahrheit sind wir nie gleich, weder als Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen noch Unterscheiden.
Wir sind auch nicht einmal „leer“ und einmal „reich an allem, was es gibt“. Wir verfehlen Shunyata, wenn wir den Theorien Glauben schenken (und derer gibt es einige), dass wir danach streben sollten, „leer“ von irgendetwas zu sein, am besten von uns selbst. Dies würde bedeuten, dass wir an der geistigen Landkarte der Wirklichkeit festhalten und das Konzept der Leerheit darüberlegen. Einer Leere, die oft eine negative Konnotation aufweist.
Es ist nicht: ich hier, als (armselige) Gestalt. Das zu Erstrebende dort, als Nicht-Sein. Wir hier im Jammertal der Dinge und Formen. Die wenigen Auserwählten dort, im Himmelblau des Absoluten.
Kurz bevor Zen Meister Ninakawa starb, besuchte ihn Zen Meister Ikkyu.
„Soll ich Dich anleiten?“ fragte Ikkyu.
Ninakawa antwortete: „Allein kam ich her. Allein gehe ich. Welche Hilfe könntest Du mir geben?“
Ikkyu antwortete: „Wenn Du denkst, dass Du wirklich kommst und gehst, ist dies Deine Verblendung. Erlaube mir, Dir den Pfad zu zeigen, auf dem es weder Kommen noch Gehen gibt.“
Mit diesen Worten zeigte Ikkyu den Weg so klar, dass Ninakawa lächelte und verschied.