May 2025

Wo die Frage des „wofür“ und „wohin“ verklingt

Nachdem wir uns zuletzt in unserer Sangha intensiv mit den Silas und dem Herzsutra beschäftigt haben, schien es an der Zeit, uns mit Themen der alltäglichen Anwendung unserer Praxis zu beschäftigen. Im Zenkurs, während eines Klosteraufenthaltes, im Zendo mit der eigenen Sangha, mag es uns gelingen, aufmerksam zu bleiben, still zu werden, aber wenn wir dann im Auto sitzen und vor uns ein Traktor fährt oder wir abends lange nach einem Parkplatz suchen müssen und erst der Montagmorgen...

Im Zen sagen wir: alles ist Praxis. Alles, auch mein ganz normaler, oft unaufgeregter, manchmal sogar langweiliger Tagesablauf kann ein Anlass sein, zu üben. Wie auch der stets bis spät in der Nacht lautstark Rap hörende Nachbar, die Döner essende Frau im engen Zugabteil, wo die Fenster nicht geöffnet werden können, der Chef, der zwar zustimmend nickt, die getroffene Vereinbarung jedoch sofort vergisst, sobald ich aus der Türe bin.

Wir alle haben unsere Triggerpunkte und unsere Leben weisen ein beachtliches Tempo auf. Meistens hüpft die Praxis an so einer Klippe davon und nicht immer gelingt es uns, sie rasch wieder einzufangen.

Vielleicht kann uns eine Auflistung, eine Einteilung und letztlich eine Sichtbarmachung der Aspekte unserer Übung im Alltag helfen, die wir im Zendo oder auf einem Retreat so quasi selbstverständlich verkörpern können?

Einer der ersten Aspekte bei der Ausbreitung unserer Praxis in alle Bereiche unseres Lebens ist die Ausrichtung. Wohin möchte ich? Wie möchte ich mich fühlen, in meinem Körper, im meinem Herzen? Was möchte ich, am Ende des Tages, getan haben? Wofür? Mit wem zusammen?
Im Zen sprechen wir von „Bodhicitta“, dem Versprechen mir selbst gegenüber, den Pfad des Erwachens zu betreten. Bodhicitta ist mehr als das Kultivieren von Mitgefühl und die Absicht, allen Wesen mit Freundlichkeit gegenüber zu treten.

Als Haltung. Neugierig, zugewandt. Das ist nicht immer gleichbedeutend mit dem, was wir gewöhnlich unter „freundlichen Worten“ verstehen. Es kann auch eine klare Ansage sein, die dem gegenüber, hoffentlich nur zunächst, überhaupt nicht gefallen wird. Auf meine innere Ausrichtung kommt es an: möchte ich gerade etwas „nur“ für mich haben, verteidige ich gerade mein Terrain, ohne Rücksicht auf Begleitfolgen oder habe ich die gesamte Landschaft im Blick, wenn ich spreche und handle?

Die Haltung des Bodhicitta ist unverzichtbar in der Praxis des Erfahrens von Shunyata.
Es ist ein Herz. In dieses Herz ist der Schmerz der Welt tief mit eingewoben. Dieses Herz ist unendlich. Es ist höchstindividuell und zugleich kollektiv. Es ist völlig meins und absolut unpersönlich. Dieses Herz verspricht nichts, keine großen Ereignisse oder Gefühle, kein Kensho, keine Brokatroben.

Es ist einfach nur da und wartet auf Dich. Schon immer, denn Du bist es. Für immer.

Gassho,
Juen


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