Flieg!

Zur Zeit der Bürgerkriege gab es einen besonders gefürchteten General, vor dessen Truppen alle flohen. Nur der Abt eines Klosters machte keine Anstalten zu fliehen, als der General mit seinen Männern das Dorf einnahm. Der General ging hinein, zog vor dem Abt sein Schwert und drohte: "Weißt du nicht, wer ich bin? Ohne mit der Wimper zu zucken kann ich dich töten."
Der Zen-Meister erwiderte: "Und du, weißt du nicht wer ich bin? Ich bin ein Mensch, den man töten kann, ohne dass er mit der Wimper zuckt." Da verneigte sich der General und untersagte seinen Männern, das Dorf zu plündern.

Wir leben in bewegten Zeiten. Natürlich war das immer so. Selten aber haben wir es in unserem wohlhabenden Westen so unmittelbar gespürt wie heute. Eine, in unserem Alltag deutlich spürbare Krise folgt auf die nächste und es sieht nicht danach aus, als ob sich dies in absehbarer Zeit ändern würde. Krieg, Corona, Umwelt; Zwischenmenschliches, subakut vital Bedrohliches, zukünftig vital Gefährliches: das gesamte Bild wird verändert. Ohne unser Zutun! Oder?

Natürlich mit unserem Tun und unserem Zu-Tun. Doch mag es sich nicht so anfühlen, denn wer ist schon gerne Zerstörer?
All das kann ein Grund sein, uns mit dem Themenbereich Angst und Furcht zu beschäftigen.
Wie üben wir damit?

Wir meinen hiermit nicht Angst als Reaktion auf eine Akutsituation wie ein Schlingern im Auto oder einen Sturz.
Wenn wir von der Tugend der Furchtlosigkeit im Zen sprechen, ist eine Haltung gemeint, die "nichts fürchtet". Allen voran: mich selbst. Denn wie die Begebenheit beschreibt, haben wir das Potential, furchterregend zu sein und Schreckliches anzurichten. Mit Munition und ohne sichtbare Munition. Beide sind gleich gefährlich.

Was hatte der Abt, das ihm erlaubte, so ruhig zu bleiben? Wusste er, dass der Tiger nicht das gefährlichste Wesen im Wald darstellt?
Kannte der Abt vielleicht – wie der Tiger – seinen Platz im Leben? War er in der Lage, für sein Tun die volle Verantwortung zu übernehmen?
Warum fürchten wir uns so davor, diesen Platz einzunehmen, voran zu gehen, erwachsen zu werden und aus der Geschichte zu lernen?
Warum fürchten wir Verbundenheit mit uns selbst und in der Folge mit Dogens "10.000 Dingen" mehr als Getrenntsein und sehnen uns doch gleichzeitig beständig nach dem ersteren?

Und was hat das Zazen mit alledem zu tun?
Zazen ist das alles (und noch viel mehr). Zazen birgt dies alles.
Zazen eröffnet uns die Möglichkeit, Mal um Mal, diese Strömungen zu halten, zu betrachten, zu besänftigen und zu befördern, zu enteisen, zum Dahinschmelzen und zum Erblühen zu bringen.  

Und dies, während wir regungslos im äußeren Un-Tun verharren.
Auch das gehört dazu. Es gehört nicht nur dazu: es ist der Schlüssel zu einem befreiten, furchtlosen und beständig freudig-kreativem Sein.
Nichts ist wichtiger in diesen Tagen.


Der Tiger fürchtet das Herz des Menschen.
Der Mensch fürchtet die Freundlichkeit des Tigers.

Koan aus Korea

Gassho, Juen



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