Genau in der Mitte, da wo das Herz liegt

In seiner der Überlieferung nach ersten Lehrrede erläuterte der Buddha den „Mittleren Weg“ als einen Weg zwischen den Extremen einer Verpflichtung zur Askese auf der einen Seite und der Hingabe zu allen möglichen Sinnenfreuden auf der anderen Seite.
Durch Nagarjuna (ca. 2. Jhdt.), einem der einflussreichsten Gelehrten mit indischer Herkunft, gelangte die Verwirklichung des Mittleren Weges in die Kernlehre des Buddhismus.

Was bedeutet es heute, diesen anzustreben?
Der Ausdruck wird häufig verkannt als einen absichtslosen Zustand der geordneten Gleichgültigkeit, wo wir weder zu sehr wollen noch zu sehr entsagen und uns gut dabei fühlen.

Das mag ein Teilaspekt sein, aber die Alten haben mehr für uns im Sinn gehabt:
Zunächst einmal hat dieser keinen Orientierungspunkt. Da ist nichts, woran wir uns verankern könnten, weder „gut“ noch „schlecht“. Das entspricht überhaupt nicht unseren Handlungsgewohnheiten, denn wir möchten bestimmen wo es lang geht, wir möchten tun und nicht lassen und schon gar nicht möchten wir uns das Heft aus der Hand nehmen lassen und dabei voll konzentriert bleiben. In der Welt der Formen befinden wir uns wir permanent auf Lösungssuche: nachdem wir die Angelegenheit mit dem „besseres Aussehen“, „schöner Wohnen“ „mehr Anerkennung genießen“ halbwegs durchschaut haben, möchten wir zumindest alles in unserer Praxis „gut“ machen. Dieses Muster jedoch hält uns unglücklich und lässt uns weiterhin leiden, denn kurze Zeit nach unseren jeweiligen Errungenschaften wird das nächste Objekt der Zu- oder Abneigung in unserem Blickfeld erscheinen.

Der Mittlere Weg hält eine andere Kategorie bereit: er ist offen und das entspricht nicht den neurotischen Mustern nach denen wir uns sonst ausrichten. Wenn wir uns traurig, wütend, einsam fühlen, möchten wir dies verändern. Wir möchten ganz bestimmt nicht stillsitzen und tief empfinden, was wir gerade fühlen, woher es kommen könnte und welche Ausmaße es in uns annimmt.

Auf dem Kissen jedoch gibt es kein Entrinnen. Irgendwann sind die Geschichten erzählt, Filme zum x-ten Mal geträumt. In einer dieser Lücken gelingt uns etwas Mutiges: wir beurteilen nichts, was in unserem Kopf gerade erscheint. Wir sitzen still und schauen (uns) zu. Auch wenn es nur kurz anhalten wird: diese geradlinige Disziplin wird uns verändern. Wir werden die gedankliche und muskuläre Erleichterung spüren, wenn es auf einmal nur Stille gibt und kein Drama.

Wir sind mit uns, wir sind allein, wir haben keine Lösung. Was wir aber besitzen, ist der Mut, weiter still zu sitzen und zu warten. Zu fühlen uns zu sein. Nicht in anderes Tun zu springen, nur zurückzukommen, wenn wir abgewandert sind. Wohin: zu uns selbst und der edlen Einsamkeit, die uns allen eigen ist. Wir müssen das nicht besonders zelebrieren oder kultivieren: es beschreibt unseren Urzustand.

Der Mittlere Weg liefert keine Lösungsvorschläge, noch bietet er ein Erleuchtungszertifikat an oder garantiert uns festen Boden unter den Füßen.
In ihm können wir stattdessen, Zazen für Zazen, all das Denken über uns, das der anderen über uns, selbst unsere eigenen Ideale, langsam verwehen lassen. Bis sie nicht mehr sichtbar sind und da nur noch Mitfühlen ist, Humor und Neugierde, Spontanität und Imagination.

Genau deswegen sprach der Buddha darüber, denn der Mittlere Weg ist besser als jede unserer vorherigen Strategien: ein offener Geisteszustand, der sich überwiegend entspannen kann, inmitten von all den Paradoxa, den Widrigkeiten und Zweideutigkeiten, die uns auch immer innewohnen werden. Es lohnt sich also, ihn zu testen. Er wartet gerne auf uns. Seit ein paar tausend Jahren.

Gassho, Juen

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