Tozans Krankheit

Tozan war krank. Ein Mönch fragte: Meister, Du bist krank. Gibt es jemanden, der nicht krank ist?
Tozan antwortete: „Ja, den gibt es.“
Der Mönch fragte: „Schaut derjenige, der nicht krank ist, nach Dir?“
Tozan sagte: „Dieser alte Mönch kann sich um andere kümmern.“
Der Mönch erwiderte: „Lehrer, wie ist es, wenn Du Dich um andere kümmerst?“
Tozan sagte: „Dann wird Kranksein nicht gesehen.“

Shoyoroku, Fall 94


Nicht nur im Gesundheitswesen haben wir die Neigung, uns darauf zu konzentrieren, was nicht funktioniert, was wir als unerwünscht oder fehlerhaft, als „krank“ erachten.
Wir denken dann oft, dass „alles“ nicht gesund sei, weil diese Krankheit, dieses Fehlerhafte gerade unseren Horizont vollkommen erfüllt.
Dies gilt im Bereich der somatischen Erkrankungen, insbesondere für die chronischen Erkrankungen. In unserem Alltag gibt es, auch ohne pathophysiologisches Korrelat, ebenfalls vieles, was wir täglich als „unerwünscht“ oder auch als „krank“ erachten.
Auch hiervon handelt dieses Koan.

Tozan ist offensichtlich krank, in den Berichten zu diesem Koan war er schwerkrank.
In dieser Situation kommt nun ein besorgter Mönch zu ihm, dem offensichtlich schwach Daniederliegenden, und fragt ihn nach jemandem, in ihm, der nicht so krank sei.

Natürlich wäre Tozan nicht der überlieferte Meister, wenn er seinen Dharmabruder lediglich verdutzt ansehen und über seine aktuellen Gebrechen klagen würde.

Stattdessen sagt er: „Ja, den gibt es!“
Der erfahrene Mönch greift dies auf und fragt, psychologisch gesprochen, nach seinen Ressourcen: „schaut derjenige auch nach Dir?“
Tozan bestätigt, dass das Schauen und Kümmern trotz seiner schweren Krankheit ungebrochen aktiv ist und er bereit ist, zu helfen.

Wiederum greift der weise Mönch dies auf und fragt tiefer: „Wie ist das, wenn Du Dich (da Du selbst gerade so krank bist), darin noch um andere kümmerst?“
Tozan bestätigt, was der Mönch eventuell bereits erahnt: „dann wird Kranksein nicht gesehen.“

Das bedeutet so viel wie: Kranksein an sich wird nicht gesehen. Weil es gerade um etwas anderes geht. Weil das Leben mir eine andere Aufgabe stellt.

Es bedeutet auch: mein Kranksein wird nicht gesehen. Ich muss mich kümmern. Ich muss eine Anfrage beantworten. Weil ich ein Zenschüler, ein Zenlehrer, ein Zenmeister bin. Weil ich die Bodhisattva-Gelöbnisse abgelegt habe. Weil in meinem Kümmern um andere auch mein Kümmern um mich selbst Platz hat. Weil ich hier bin, um zu dienen. Weil ich ein Mensch bin.

Gassho, Juen

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