Jiashan trifft den Fährmann

I

In dem alten Koan „Jiashan trifft den Fährmann“ wird folgende Begebenheit beschrieben:

Chuanzi Decheng übte gemeinsam mit Daowu und Yunyan in Yaoshans Gemeinschaft. Nachdem Chuanzi Yaoshan verließ, lebte er auf einem kleinen Boot auf einem Fluss in der Provinz Huating. Bevor er ging, sagte er zu Daowu: "Wenn du einen vielversprechenden Übenden triffst, schicke ihn bitte zu mir."

Zenmeister Jiashan war der Abt des Zhulin-Klosters. Daowu besuchte nun dieses Kloster und wohnte einer von Jiashans Vorträgen bei.

Einer der Mönche fragte: „Was ist der Dharma-Körper?“
Jiashan gab zur Antwort: „Der Dharma-Körper hat keine Form“.
Der Mönch fragte erneut: „Was ist das Dharma-Auge?“
Jiashan: „Das Dharma-Auge hat keinen Kratzer“.

Daowu konnte ein leises Lachen nicht verbergen.
Jiashan bemerkte dies. Er stieg von seinem Lehrersitz herunter, lud Daowu ein, machte eine formelle Verbeugung und sagte:
„Lachtet Ihr, weil ich dem Mönch eine falsche Antwort gab? Bitte seid so gütig, mir dies zu erklären.“
Daowu sagte: „Obgleich Ihr der Abt dieses feinen Klosters seid, habt Ihr einen wahren Lehrer noch nicht getroffen“.
Jiashan sagte: „Bitte sagt mir doch, wo mein Fehler liegt“.
Daowu sagte: „Ich kann es Euch nicht erklären, aber ich habe einen Gefährten, der auf einem Boot in Huating lehrt. Lasst mich vorschlagen, dass Ihr dorthin geht und ihn trefft. Ich bin mir sicher, dass Ihr etwas gewinnen werdet“.
Jiashan sagte: „Wer ist diese Person?“
Daowu sagte: „Über ihm ist nicht einmal ein halber Dachziegel. Unter ihm ist nicht einmal ein Zoll Erde. Doch falls Ihr zu ihm geht, tragt besser nicht Eure Abt-Robe“.

An diesem Treffen zweier erfahrener Zen-Lehrer ist mehreres bemerkenswert:
1. das Wesen des Zen zeigt sich in Begegnungen: innerhalb unserer selbst als auch im Austausch mit anderen oder darin, wie ich auf die sich mir darstellende Wirklichkeit reagiere.
2. ein Mensch begegnet einem Ding, zwei Menschen treffen aufeinander und etwas Neues kommt hervor, etwas, das vorher verborgen schien. Unsere Aufgabe besteht darin, möglichst frisch und wach zu sein für derartige Momente, so dass wir diese prägenden Gelegenheiten nicht verpassen.
3. die obige Begegnung findet statt zwischen zwei langjährig Übenden, die bereits die Dharma-Übertragung erhalten haben. Dennoch setzen sie ihre Suche fort. Kein Wort von dem „Ruhm“ des Erlangten, von „Status“ oder Seniorität.
Der (jüngere) Mönch stellt tiefe Fragen, sein Lehrer antwortet mit dem, wie wir auch heute den „Dharmakaya“ beschreiben: der erwachte Geist ist unsichtbar, unteilbar und allgegenwärtig. Wir könnten sagen, er gibt seinem Schüler eine „gute“ Zen-Antwort.
Dennoch kann sein Besucher, ebenfalls Lehrer, ein Schmunzeln nicht verbergen. Daraufhin verlässt sein Kollege den Lehrersitz, stellt sich auf Augenhöhe zu ihm und bittet um Erklärung. Kein Beharren auf seinen „Zen-Worten“ oder seinem angestammten Hochsitz, „seinem“ Kloster, vor seinen Mönchen. Nichts davon ist wichtig in dem Moment, in dem es jemanden zu geben scheint, der vielleicht noch tiefer schauen kann.
Wahrer Anfänger-Geist.

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II

Daraufhin löste Jiashan bald seine Klostergemeinschaft auf, wechselte die Kleider und ging geradewegs nach Huating.

Als Chuanzi Jiashan nahen sah, sagte er zu ihm: „Und von welchem Kloster bist Du der Abt?“
Jiashan antwortete: „Ich bin nicht Abt eines Klosters, sonst würde ich ja nicht so aussehen“. Chuanzi sagte: „Was meinst Du mit ‚nicht so aussehen’?"
Jiashan sagte: „Es ist nicht wie etwas, das klar vor Augen liegt“.
Chuanzi: „Wo hast du gelernt?“
Jiashan: „An keinem Ort, den Ohren oder Augen erreichen können“.
Chuanzi: „So wie du diesen Satz verstehst, kann er den Esel immer noch für unendliche Zeit anbinden“.
Dann sagte er: „Ich lasse meine Angelschnur eintausend Fuß hinab, doch das Herz ist immer noch drei Zoll vom Haken entfernt. Warum sagst du nichts?“
Jiashan war gerade dabei, seinen Mund zu öffnen, da stieß ihn Chuanzi mit dem Ruder ins Wasser. Jiashan tauchte auf und kletterte ins Boot.
Chuanzi sagte: „Sag etwas! Sag etwas!“
Jiashan wollte seinen Mund erneut öffnen, als Chuanzi ihn erneut anstieß.
Da kam Jiashan plötzlich zum Erwachen und verbeugte sich drei Mal.

Chuanzi erkennt Jiashan trotz seiner Verkleidung.
Auch wir sollten uns durch die Kleider unserer Mitmenschen weder beeindrucken noch abhalten lassen, ihnen (dennoch) zu begegnen.
Chuanzi, wie ein guter Arzt, spürt, dass es noch Symptome einer Krankheit gibt, die Jiashan in sich bisher nicht angesprochen hat. Es fehlt noch etwas, bis sein Herz ganz zu Wasser gelassen und zum Freischwimmer werden kann. Chuanzi wendet die beste Medizin an, die ein Arzt, eine Mutter, zu bieten hat: er vertraut ihm vollkommen. Und dem Wasser, das ihn tragen wird. Und den Wellen dazwischen.

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III

Chuanzi sagte: „Nun kannst Du die Angelrute übernehmen. Die Bedeutung des Ausspruches ‚das stille Wasser wird nicht bewegt’ ist natürlich und tiefgründig“.
Jiashan sagte: „Warum gibst du die Angelrute fort?“
Chuanzi: „Um zu sehen, ob der Fisch goldene Schuppen hat oder nicht. Wenn du es erkannt hast, sprich schnell! Worte sind wunderbar und unaussprechlich“.
Während Chuanzi sprach, bedeckte Jiashan seine Ohren und begann, sich zu entfernen. Chuanzi sagte: „Genauso, genauso“.
Dann belehrte der Meister Jiashan und sagte: „Von nun an, lösche alle Spuren, aber verbirg nicht deinen Körper. Ich war 30 Jahre lang in Yaoshans Kloster und habe genau dies geklärt. Nun hast du es. Lebe nicht in einer Stadt oder einem Dorf. Bleibe tief in den Bergen oder auf einem Bauernhof und leite eine oder eine halbe Person an. Führe meine Lehre fort und lass nicht zu, dass sie abgeschnitten wird.“

Der Überlieferung nach blieben die beiden die ganze Nacht über auf dem Boot auf dem Fluss und sprachen miteinander.

Lösche alle Spuren ...
Ein Aspekt davon könnte sein, so zu leben, dass wir möglichst wenig Unheilsames hinterlassen. Das mag in Zeiten der Klimadiskussion gerade besonders publik sein, beginnen jedoch tut es in uns: unserer Kost, reell, medial, sozial, unseren Gesten, unserer Anschauung zum Beispiel.
Ein weiterer Aspekt könnte darin bestehen, der Erfahrung von Shunyata, der Leere, in unserem Tun und Handeln Ausdruck zu verleihen.

„Wenn Ihr etwas tut, solltet Ihr Euch vollständig verbrennen, wie ein gutes Feuer, das keine Spuren hinterlässt.“
Shunryu Suzuki


Verbirg nicht deinen Körper ...
Wir sind als Bodhisattvas dazu aufgerufen, unseren Platz einzunehmen und die Fragen, die das Leben an uns stellt, ehrlich und direkt zu beantworten. Mit allem, was wir „sind und haben“.

Ja, es gibt verschiedene Stufen des Erwachens. Es gibt große und kleine Einblicke. Manche davon halten nur kurz, manche ein Leben lang. Letztendlich aber gibt es nur eine Form des Erwachens: erwachte Handlung“.
Sojun Mel Weitsman

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IV

Jiashan nahm Chuanzis Übertragung an und sagte ihm Lebewohl.
Er ging an Land, begann wegzugehen und drehte sich immer wieder um.
Chuanzi rief ihm hinterher: „Verehrter, Verehrter!“
Jiashan drehte sich um.
Chuanzi hielt das Ruder hoch und sagte: „Da ist noch etwas.“
Nach diesen Worten sprang er aus dem Boot und verschwand im Dunst und in den Wellen.

Natürlich gibt es immer noch dieses oder jenes.
Diese Übung hat kein Ende. Was heute eine „rechte“ Antwort ist, mag in einer anderen Situation „drei Zoll vom Haken entfernt“ sein. Wo es Strukturen gibt, neigen wir dazu, Dinge festschreiben zu wollen. Das ist insbesondere auf dem Gebiet der Spiritualität heikel. Dem Wesen des Zen ist es völlig fremd.

Natürlich gibt es im Grunde genommen weder dieses noch jenes.
In dieser Übung ist Anfang wie Ende. Die „rechte Antwort“ stets die gleiche. Laterne, Bambus und Kiesel sind unsere Strukturen. Das Wesen dieser Praxis wird von Dunst und Wellen geschrieben. Zusammen mit allen, die darin seit mehr als zwei Jahrtausenden beheimatet sind.

Gassho,
Juen und Nanzan

Schoeckelm279102-09


Als Quellen wurden verwendet: The True Dharma Eye, transl. Kazuaki Takahashi, John Daido Loori, Shambala Publ., 2005; Zen's Chinese Heritage, Andy Ferguson, Wisdom Publ., 2000.