Flieg!

Auf den ersten Blick mag die strikte Übung des Zen mit seiner überlieferten präzisen Formgebung und seiner Ästhetik der Reduktion wenig mit Kreativität, Imagination und Phantasie zu tun haben.

Jede spirituelle Praxis, die ehrlich genug ist, sich als Teil einer Religion zu begreifen, kann engherzig werden in ihrem Streben, die Gesellschaft zu fördern und das Individuum zu motivieren.
In jeder dieser Gemeinschaften blüht auch immer die glühende Kohle von Wildem, Mystischem, Kreativem.

Imagination erweitert unsere Herzen und unseren Kopf. Neuerungen, moralische Visionen, Hilfsbereitschaft, Liebe, Idealismus, Vertrauen – alles Vorgänge, bei denen unsere Vorstellungskraft über das offensichtlich Wahrgenommene hinausgeht.

In unserer Zen-Praxis sind wir selbst aufgerufen, unser Leiden zu erfassen, es stetig zu ergründen, es zu verwandeln. Keine omnipotente Übereinheit hilft uns dabei.

Wir leiden auch, weil uns die Imagination fehlt, die Dinge so zu betrachten und zu erfahren, wie sie wirklich sind.
Im Mahayana erhalten wir das Angebot, unsere Imagination zu neuen Höhen aufzuschwingen: wir wenden den Blick von uns ab und öffnen ihn für andere, für alles andere. Buddha als kosmisches Prinzip: das Mit-Sein mit allem wird zentral.

Die Welt steht niemals still. Sie ist nie fixiert.
Ein Bodhisattva verschwendet zunehmend weniger Energie darauf, ständig zu erdenken, wie die Welt in seinen oder ihren Augen auszusehen hat.

Unsere Imagination ist dabei wie eine Sommerbrise, die lockert, was starr und kalt erscheint. Sie stellt die Fähigkeit der Erfahrung von zunehmendem Vertrauen dar. Von grenzenlosem Vertrauen in die Möglichkeiten, in das Potential des jeweiligen Augenblicks.

Wir üben Zazen. Wir üben auch: die natürliche Fülle des Seins zu schätzen, seine inhärente Großzügigkeit von Zeit und Raum. Das Leben an sich gibt immer. Es ist niemals geizig oder kleinkariert, niemals dogmatisch oder berechnend.

Wir müssen unser Leben nicht ständig erschaffen und regulieren. Wir können es lassen, uns lassen.

Warum sind wir nicht so großzügig wie ein Baum?
Warum können wir nicht an jedem und allem Interesse zeigen?
Warum kümmern wir uns nicht einfach, wenn es die Situation gebietet?
Warum verbreiten wir nicht unser bestes Mitgefühl, warum üben wir es nicht wie unser Zazen, wie unseren Atem?
Wir unterliegen zu oft der Fehlwahrnehmung, "für uns" zu üben. Dabei ist das ein Irrtum.

Unser Mit-Sein stellt nicht nur unsere größte Imaginationsleistung dar, es ist gleichermaßen die Quelle für anhaltende Freude und Zufriedenheit.

Mitgefühl schafft Vertrauen. Vertrauen schafft den Eindruck, auf mich kommt es an.

Denn dass wir einander haben, immer noch und gerade auch in der Neige zu diesem schwierigen Jahr, ist ein großes Geschenk. Es ist vorübergehend. Einzigartig.

Allein die Vorstellung, jetzt zueinander fliegen zu können! Und es dann auch tatsächlich zu tun.

Gassho,
Juen

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