Über das Universum als Dattelpflaume
In Japan, wo Privatgärten auf Grund von Platzmangel die Ausnahme darstellen, gehört der Persimonen-Baum (auf Japanisch kaki 柿) dennoch beinahe zu einem Haus dazu. Die tief orangenen Früchte hängen an den bereits entlaubten Bäumen und sind ein ähnliches Symbol für den Winter wie bei uns die Weihnachtssterne.
In Japan wird in zwei Gruppen unterschieden. Die fuyū kaki (富有柿) ähneln in ihrer Form eher Tomaten und können direkt vom Baum gegessen werden. Dafür werden sie geschält und wie Äpfel in Spalten geschnitten. Sie schmecken süß und knackig. Diese im Frost geernteten Früchte, die für Glück und Langlebigkeit stehen, bieten einen kleinen Trost für kalte und lichtarme Wintertage an.
Die zweite Art Persimone sind die länglichen, spitz zulaufenden hachiya kaki(蜂屋柿). Diese werden u.a. verwendet, um aus ihnen hoshigaki (干し柿), getrocknete kaki, herzustellen. Dieses Verfahren ist aufwendig, denn um den Zucker aus dem Inneren der Frucht an die Oberfläche zu befördern, müssen die Kakis an Schnüren gebunden getrocknet und dabei mit einer bestimmten Methode „massiert“ werden. Persimonen gehören zum japanischen Kulturgut und waren zunächst dem Adel vorbehalten, was vielleicht auch erklärt, warum sie bereits im 8. Jahrhundert auch in Gedichtform erwähnt werden.
Dies hätte nahezu nichts mit unserer Praxis zu tun, wenn sie nicht der chinesische Mönch Mu Qi im 13. Jahrhundert auf eine Art und Weise verewigt hätte, die unsere Übung so meisterhaft zum Ausdruck bringt.
Kaum anders ist die Berühmtheit dieser Tuschezeichnung zu erklären, die auch als japanische „Zen Mona Lisa“ bezeichnet wird und heute im Rinzai-Haupttempel Daitukoji-Ryokoin in Kyoto beheimatet ist. Wie für die Zen-Malerei typisch, gibt es auf den ersten Blick „nichts Besonderes“ zu sehen: fünf Kugeln, eine sechste im Vordergrund, kein Hintergrund und farblich nichts als verschiedene Variationen in Grau.
Beim genauen Hinsehen aber haben alle sechs Früchte verschiedene Reifungsformen. Zusammen mit den unterschiedlichen Schattierungen kann man sie lesen als spirituelle Reise, als Sichtbarwerdung von Form und Leere, als Veranschaulichung der wechselseitigen Verbundenheit. Die eigentliche Würze erhalten die Früchte durch ihre Stengel.
Was wären wir ohne spirituellen Halt? Präzise und zupackend, unmissverständlich und beherzt, mit dicker Tinte gemalt, geben sie den Früchten ihren Raum, eine Perspektive und gewissermaßen ihre Berechtigung. Somit erscheint die im Vordergrund platzierte Frucht als fast tief Orange, beinahe überreif – obschon sie in mittelgrau gehalten ist.
Ein erwachter Mensch trägt weder Rang noch Namen, er wirkt aus sich heraus und bleibt dabei äußerlich beinahe unsichtbar. Das ist Linjis „wahrer Mensch ohne Rang, der fortwährend von den Portalen Deines Gesichts ein und ausgeht.“
Die scheinbare Diskrepanz zwischen flächiger Farbauftragung der Früchte und präziser Strichführung der Stengel, womit beide erst vollständig als solche erscheinen, ist genau das, was wir üben, wenn wir uns auf dem minütlichem Kontinuum zwischen der Welt des Absoluten und des Relativen bewegen.
Und natürlich wäre es kein so berühmtes Zen-Gemälde, wenn es nicht etwas Unscheinbares, fast Nebensächliches zum Anlass nehmen würde, um unser Leben und den Lauf der Welt zu veranschaulichen.
Auch das gehört unserer Praxis und darin ähnelt sie den großen Kunstwerken aller Zeiten: durch Einfachheit und ein Weglassen, durch Verzicht auf Ablenkung und Entschlossenheit der Durchsicht durch die eigene Unwissenheit, durch Entsagung von bewusster Illusion, deutlich zu machen, wie vielschichtig und komplex, wie faszinierend und anregend unsere ganz normalen Tage im Grunde nicht nur sein können, sondern tatsächlich auch sind.
Gassho, Juen
Überzeugungen: Feinde der Wahrheit
Diese Grundsätze gehören in unserer Tradition zu den kostbarsten Lehren. Sie beschreiben nicht weniger als ein gutes und gesundes Leben für uns selbst und andere. Wenn es etwas Konkretes weiterzutragen gibt von jenen, die vor uns diesen Weg gegangen sind, so sind es sie Silas.
In ihnen enthalten sind die „10 Grundsätze eines klaren Bewusstseins“. Der erste von ihnen lautet in der Übertragung unserer Tradition:
„Ich bin entschlossen, nicht zu töten, sondern alles Leben zu bewahren.“
Hierbei geht es nicht um die in diesem Zusammenhang oft aufgebrachte Frage: Fleisch essen oder nicht? Es geht auch nicht darum, wie wir in einer Extremsituation der Bedrohung reagieren würden oder sollten.
Es geht vielmehr darum, wie wir „nicht tötend“ leben können.
Wo liegt der innere Ort, an dem ich Leben bewahre? Der erste Grundsatz hält uns dazu an, die zahllosen Arten zu erforschen, in denen wir töten: verdrängen, negieren, übersehen, wegwischen, missachten, distanzieren, offen ablehnen, verachten, polarisieren – zum Beispiel.
Der Grundsatz ruft uns dazu auf, all die vielen, die großen wie die subtilen, die lange bekannten wie die kaum notierten Anteile unserer selbst anzusehen. Freundlich, unverblümt und in der Helle des Tages. Wie eine Muschel am Sonntagsstrand. Diese Teile sind unsere Schätze. Durch sie führt der Weg in die Freiheit, unsere Freiheit.
Wie zeigt sich dieses Töten in meinem Alltag?
Alle unheilsamen Emotionen entstehen, weil ich mir nicht gestatte, sie ins Licht zu rücken. Weil ich sie ausschließe und als „fremd“ erachte. Diese Trennung ist Töten in seiner ersten, seiner rohesten Form. Hier wird getötet, lange bevor ich jemanden als meinen Feind erachte, lange bevor ich auf die Straße gehe und Parolen von mir gebe.
Hier wird eine Identität aufgebaut, die immer wieder aufrecht erhalten und mit viel Energie erneuert werden muss. Sie bildet den sicheren Weg ins dauerhafte Leiden für mich und andere.
Sie tötet und stiehlt vom einzigen, was wir wirklich unser eigen nennen können: den jetzigen Augenblick. Dem Leben, diesem Leben, unserem Leben.
Denn Leben ist nicht Töten.
Leben ist Steine, Blumen, herabfallende Blätter, Bücher, Lachen, Trauer, Gesang, Abschied, Haferflocken, Sterne am Nachthimmel, das Papier am Boden, Wäsche im Abendwind.
Leben ist auch: der Täter in uns.
Töten ist meine Weigerung, Leben zu erhalten.
Es ist auch meine Weigerung, unser eigenes, unser unermessliches Leiden zu Lebzeiten beenden. Mehr noch, es ist der freiwillige Verzicht auf mein großes Potential, meine Entwicklung, meine grundlose Lebensfreude und Energie, auf mein Glücklichsein bei grauem Himmel und bei Sonnenschein, auf meine Freude am Dienen und meine Leichtigkeit des Seins.
Wir haben es in der Hand, diese Waffe routiniert gegen uns zu richten oder sie zu befrieden.
Wir wissen, dass die Buddha-Ahnen aus alter Zeit das Abenteuer jeden Tages nicht vernachlässigt haben. Du solltest auch täglich darüber nachdenken.
Sitze neben einem hellen Fenster und denke darüber nach, an trüberen und an blumenvollen Tagen. Sitze in einem schlichen Gebäude (und denke daran), erinnere es an einem verregneten, einsamen Abend... Welche Art von Feind ist der Lauf der Zeit? Wie bedauerlich, Deine Zeit zu vergeuden wegen Deiner fortwährenden Zerstreuungen.
Wenn Du Dich selbst nicht kennenlernen möchtest, wirst Du nicht dazu in der Lage sein, Dir ein Verbündeter zu sein in diesem edlen Unterfangen.
Dogen Zenji, aus dem Shobogenzo
Gassho, Juen
Ein Esel mit lebendigem Auge
Caoshan fragte den Mönchsälteren De:
"Der Dharma-Körper eines wahren Buddhas ist wie ein leerer Raum, der als Antwort auf fühlende Wesen Formen annimmt, wie die Spiegelung des Mondes im Wasser. Wie drückst Du die Wahrheit dieser Antwort am besten aus?"
De sagte: "Es ist wie ein Esel, der in einen Brunnen schaut."
Caoshan sagte:
"Was Du das sagst, ist sehr gut, doch es trifft es nur zu 80 oder 90 Prozent."
De sagte:
"Wie würdest Du es denn ausdrücken, Meister?"
Caoshan sagte:
"Es ist wie der Brunnen, der den Esel anschaut."
Der Lehrer Dogen sagte:
"Der Esel schaut in den Brunnen; der Brunnen schaut in den Esel. Der Brunnen schaut in den Brunnen; der Esel schaut in den Esel.
Die Erscheinungsformen des Körpers und der Gegenwart des Geistes sind grenzenlos. Die Formen, die sich als Antwort auf alle fühlenden Wesen darbieten, sind zahllos.
Das kraftvolle Auge innerhalb des Kreises erhellt das weite leere Feld und dringt wundersam zur Quelle vor, auch wenn dafür eine Burg mit Senfsamen gefüllt oder ein uralter Fels abgetragen werden muss.
Während Du Deine Reisetasche an Deiner Seite trägst: warum schreibst Du nicht einen Brief nach Hause?“
Dogen Zenji, aus dem Eihei Koroku
Auch in diesem Jahr
Werde ich wieder
Kastanien
von Hand aufklauben
eine Frucht
drei Teile
Das Firmament
scheint heller
Wenn ich jeden Stern
einzeln betrachte.
Gassho, Juen
Das Fließen dieses Augenblicks im Wind
Wenn losgelassen, wird es vom Wind übertragen.
Wenn weder hochgehalten noch losgelassen, werden die zahllosen Dinge durchdrungen.
Der Strom im Tal mit seinem fließenden Wasser bei Tag und bei Nacht
wäscht Sonne wie Mond.
Der Berg mit seinen Wolken im Süden und seinem Regen im Norden wird grün und rot gefärbt.
Joshus Zypresse konnte nie ein Objekt sein.
...
Die drei Zeiten scheinen sich weder nach vorne noch nach hinten zu bewegen.
Die großen tausend Welten scheinen im leeren Himmel zu schweben.
Jeder Augenblick ist weder ich noch Du.
Übung-Erwachen kommt von Westen und von Osten.
Dogen Zenji, aus dem Eihei Koroku
Der Gründer unserer Schule war vieles: Mönch, Zenmeister, Gründer von Klöstern, Kalligraf, Schriftsteller, Philosoph, Pilger, um nur einige zu nennen.
In allem war er: Dichter. Ein Poet, der über eine auch 772 Jahre später beeindruckende Imagination verfügte. So formell er manchmal auch schrieb, so hart, bisweilen ein wenig stur er mit Zeitgenossen umging, die in seinen Augen die Tradition nicht so achteten, wie er sie verstand, so frei und ungezwungen verknüpfte er Tempi und Bilder.
Dogen ließ pausenlos neue Wortschöpfungen entstehen. Manche von ihnen können auf historische Grundlagen zurückgeführt werden, Dogen war äußerst belesen. Das ist eine Art, ihn zu studieren.
Eine andere Art besteht darin, seine Bilder auf uns wirken zu lassen und sie mit unserer eigener Meditationserfahrung zu verbinden. Denn das sind sie auch: der Versuch, das was uns im Zazen begegnet, sichtbar zu machen. Diesem Ausdruck zu verleihen, eine eigene Form zu geben.
Gassho, Juen