Warum das Meer kein Wasser zurückweist

In Dogens "Bodaisattashishoho" - vier Weisen von Bodhisattvas, sich anderer anzunehmen - geht es im vierten Aspekt um "doji". Das bedeutet so viel wie "Gleichheit der Handlung", "Gleichheit der Absicht", "das gleiche Ziel haben", "im selben Boot zu sitzen".
Als Bodhisattvas streifen wir nicht nur unsere Robe an beim Klang der Glocke, wir gesellen uns auch zu jedem ins Boot, der uns ruft oder dem wir begegnen. Zu jedem. Wir machen, wie Daigu Ryokan, keinen Unterschied zwischen "Sakeladen oder Fischhändler", sondern wir besuchen sie alle:

Longtan bestritt seinen Lebensunterhalt mit dem Backen und Verkauf von Reiskuchen. Als er den Priester Tianhuang traf, verließ er sein Zuhause und folgte ihm. Tianhuang sagte: "Sei mein Assistent. Von nun an werde ich Dich das wahre Dharmator lehren" Nach einem Jahr sagte Longtan: "Als ich hier ankam, sagtest Du, dass Du mich lehren würdest. Aber bis jetzt ist nichts passiert". Tianhuang sagte: "Ich habe Dich die ganze Zeit gelehrt". Longtan sagte: "Was hast Du mich gelehrt?" Tianhuang sagte: "Wenn Du mich begrüßt, verbeuge ich mich. Wenn ich sitze, stehst Du neben mir. Wenn Du Tee bringst, nehme ich ihn von Dir entgegen."

Unsere Praxis, so streng und komplex sie auch aussehen mag, so intellektuell schwer zugänglich, so körperlich fordernd, so schier "unerreichbar", wenn wir an die Vier Großen Gelöbnisse denken – so einfach und schlicht ist sie in ihrer Essenz. Möglichst mit uns selbst und doch bar unserer selbst einfach sein, in heiterer Freundlichkeit und tiefer mit-menschlicher Verbundenheit, das ist das gesamte Dharma.

Loris
"Er ist ja gar kein Flüchtling", sagt sie, wobei sich ihre Mundwinkel nach unten bewegen. "... nur so ein Medizinflüchtling. Er hat seine Chance gehabt. Wir können nichts mehr für ihn tun." Nach der gemeinsamen Tumorkonferenz blicken wir ihr nach, während sie schulterzuckend den Treppenabsatz nimmt und sich dabei über die Seiten ihres weißen Kittels streicht.

Herr T. kommt aus Armenien. Dort hat er bei der Bahn gearbeitet. Als die Luftnot schlimmer wurde, machte der Arzt ein Röntgenbild. Es verheißt nichts Gutes.
Er verkauft alles, leiht sich Geld bei Verwandten und flieht im Bugwind der Flüchtlingskrise auf abenteuerlichen Wegen zu uns.
Nun sitzt er auf seinem Bett, schnappt bei kleinster Anstrengung nach Luft und blickt alle mit klagenden Augen an. Die erste Therapie hat versagt, die zweite ebenso. Die dritte ist nebenwirkungsreicher und: sie kostet "uns" ein kleines Vermögen.
Er spricht keine unserer Sprachen. Sein gesamter Besitz passt in eine Tasche am Bett, die ihm das Rote Kreuz geschenkt hat.

Vor ca. 75 Jahren waren 12 bis 14 Millionen Deutsche auf der Flucht.
Zufällig war ich nicht dabei. Zufällig habe ich Krankenversicherung, Wohnung, Kühlschrank, Auto, Beruf.
Er winkt mich heran und legt ein kleines Bündel auf die Decke. Sorgfältig packt er es aus und drückt etwas Rohes in meine Hand.
Es ist ein armenisches Kreuz. Er deutet auf uns beide und faltet die Hände.
"One" sagt er zum Abschied.

Gassho,
Juen



Schoeckelm279101-15