Über die Freiheit der Leere

Im Herzsutra heißt es:

„Oh, Shariputra, Grenzenlosigkeit ist aller Dinge wahre Natur. Sie entstehen weder noch vergehen sie, sie sind weder unrein noch rein, weder zu- noch abnehmend.
Leere ist nicht beschränkt durch Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden.
Sie ist frei von Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, frei von Form, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung, Gedankeninhalt, frei von der Welt der Sinne und der Welt des Geistes.
Sie ist frei von Nichtwissen und dem Ende des Nichtwissens.
Leere ist frei von Alter und Tod, frei vom Ende von Alter und Tod.“


Und so wurde vor zweitausend Jahren die seit in etwa fünf Jahrhunderten elaborierte buddhistische Lehrmeinung mit einem Federstrich in Frage gestellt...

Leerheit, so wird hier ausgeführt, ist nichts von dem, was bis dato als die Grundfeste der Lehre Buddhas verstanden wurde: die drei Siegel des Buddhismus, zum Beispiel.
Vergänglichkeit (anicca), Leiden (dukkha), Nicht-Selbst (anatta).
Im Herzsutra aber heißt es: „frei von Entstehen und Vergehen, frei von unrein oder rein, frei von zu- oder abnehmendem Selbst.“

Shunyata ist weder beengt durch eine Vorstellung der Drei Siegel, noch durch irgendeine andere Lehrmeinung. Shunyata ist vielmehr: reine Zazen-Erfahrung. Mit Worten ist diese nur annähernd zu beschreiben, zumindest nicht als Prosa.

Und wenn wir uns an dieses Tor zur Befreiung erinnern, dann macht all das scheinbar Paradoxe in diesem ehrwürdigen Urtext auf einmal Sinn: natürlich gibt es Formen. Aber wenn wir uns auf unsere Erfahrung der eigenen Form berufen, haben wir Momente erlebt, in denen es schwer war, zu sagen, wo wir beginnen und enden. Und sind wir nicht gerade heute in unserem Zazen 20, 30 Jahre zurückgereist? Und war diese Erfahrung nicht „echt“? Gehört die Luft, die ich einatme, zu meiner Form? Was ist mit der Pizza von gestern? Der Bank, auf der ich gerade sitze?

Auch das gehört zur Leere wie auch zur Lehre: Verunsicherung. Fragen. Fragen stehen lassen und sie beobachten. Mich durch Fragen bewegen, erschüttern und transformieren lassen. Zur Frage werden, bis es keine Frage mehr gibt.

Mich der großen Frage meines Lebens widmen, wissend, dass ich sie niemals werde in Worten beantworten können.
Außer durch meine Begegnung mit ihr.
In der einen großen Frage, die sich „mein Leben“ nennt.
Dank unserer Praxis wird es zu „Leben“ werden: einem Dasein, in dem vor allem meine Begegnungen, meine Berührungen, meine Brückenschläge es sind, die Form und Leere ein Gesicht, ein Lächeln und eine Würde verleihen, die alle Fragen nach Sein und Nicht-Sein in Vergessenheit treten lassen wird.

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