Groß ist das Gewand der Freiheit

In unserem „friedlichen Verweilen im Herbst“ (Ango) beschäftigen wir uns mit Gelübden.
Eines der zentralen Gelübde des Zen stellen die „Vier großen Gelübde eines Bodhisattva“ dar.

Die Definition eines Bodhisattva besteht darin, die Absicht zu fassen, sein Leben nach dem Gelübde zu leben und nicht primär nach karmischen Impulsen. Diese können uns bewegen wie ein Blatt im Herbstwind: mal hierhin, mal dahin, je nachdem wie unsere Gewohnheiten, Vorzüge, Wertvorstellungen gerade wehen. Diese wiederum entwickeln sich im Laufe unseres Erwachsenwerdens, sie richten sich nach den Werten der Gesellschaft, in der wir leben. Wir benutzen dieses Wertesystem um zu handeln, zu urteilen, abzuwägen. Wir neigen hierbei zur Wahl dessen, was uns anzieht und wir scheuen das, was wir nicht mögen. Es sind meistens reflexartige Entscheidungen, die selten durchdacht sind, die auf junge Teile in uns selbst zurückgehen und oft „nur uns selbst“ im Blickfeld haben.

Jede und jeder in unserer Praxis ist dazu aufgerufen, ein Bodhisattva zu sein. Im Gegensatz zu jenen selbstlosen Heiligen, die sich der Welt entsagten, findet das Leben eines Bodhisattvas inmitten von allem Weltlichen statt. Ein Bodhisattva strebt danach, Entscheidungen zu treffen, die Leid vermindern und die Weisheit und Mitgefühl aller fördern. Ein Bodhisattva hat immer die Gemeinschaft im Sinn. Wir beginnen mit uns, wir schauen genau hin. Wir müssen nicht warten, bis wir „alles“ gesehen haben. Es reicht – und ist anstrengend genug - die eigene Verantwortung zu erkennen und bereit zu sein, sie zu tragen. Ein Bodhisattva ist ein spirituell erwachsen gewordener Mensch, das ist nicht selbstverständlich und geschieht nicht einfach so.

Natürlich unterliegt auch ein Bodhisattva dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Alles, was wir tun, hat Folgen. Solange wir hier sind. Solange wir denken können. Alles, was je getan wurde und getan werden wird, hat Folgen. Wir versuchen im Zuge der Übung, diese scheinbar unsichtbaren Abfolgen zunächst für uns selbst zu durchschauen. Wir beginnen mit der rein individuellen Ebene, die wir Zug um Zug erweitern auf unsere Erziehung, unsere Familie, unsere Nation.
Wir erfahren: wir selbst sind die Folgen unserer Taten, unserer Sprache, unseres Denkens und Handelns.

Vermeide Unheilvolles.
Tue was gut ist.
Lebe zum Wohle aller Wesen.


Dies sind nicht die Versprechen entfernter Heiliger vor langer Zeit. Dies beschreibt unsere Worte, unser Bemühen. Sie sind ein Appell an uns, die wir das große Glück haben, dieser wunderbaren Praxis begegnet zu sein. Wir sind dazu aufgerufen, sie mit größtmöglicher Aufmerksamkeit und Aufrichtigkeit zu üben. Im Zuge dessen weitet sich unsere Sorge immer mehr aus – ich kann nie wieder sagen: „Das ist nicht mein Problem.“
Ein Bodhisattva steht entgegen dem allgemeinen Trend nach isolierter Selbstschau, Ablenkung und „Schmerzarmut“.
Als Bodhisattvas sind wir bereit, uns vollkommen in den Dienst zu stellen, einen Dienst, der uns an Orte bringen wird, die wir uns niemals hätten träumen lassen. Einen Dienst, der uns Freiheiten eröffnet, die wir nicht erahnt und Empfindungen ermöglicht, die wir niemals gekannt haben. Einen Dienst, der für uns unbändige Freude und tiefe Traurigkeit, große Verbundenheit und edle Einsamkeit bereithalten wird.
Dies wird der Dienst im großen Gewand der Freiheit genannt: ein Feld des Glücks jenseits aller Formen.

Zahllose fühlende Wesen:
ich gelobe, mit allen gemeinsam zu erwachen.
Täuschungen sind unerschöpflich: ich gelobe, sie alle zu lassen.
Unzählbare Dharma-Tore:
ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Unübertroffen ist Buddhas Weg: ich gelobe, ihn zu verwirklichen.


Gassho, Juen

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