Der zinnoberrote Faden

Meister Songyuan Chongyue (12. Jhdt.) sprach zur Versammlung:
„Um den Weg in vollkommener Klarheit zu verwirklichen, müsst ihr einen wesentlichen Punkt durchdringen, ohne ihm auszuweichen:
Der zinnoberrote Faden kann nicht durchtrennt werden.
Nur wenige nehmen sich dieser Aufgabe an, sie ist nicht leicht zu lösen.
Stellt euch ihr, ohne zu zögern. Wie sonst soll die Befreiung kommen?“

Eine der traditionellen Auslegungen lädt dazu ein, diesen roten Faden, der auch als blutroter Faden bezeichnet wird, in einer vertikalen Dimension zu verstehen: unsere Verbindung zu unseren spirituellen Vorfahren, wie sie auch im Rahmen der Jukai-Zeremonie anhand der Blutlinie der Ahnen deutlich wird. Dieser Faden, das sind alle, die vor uns diesen Weg gegangen sind, aber auch unsere biologische Familie. Und alle, die nach uns kommen werden! Eine untrennbare Verbindung vertikal durch alle zeitlichen Ebenen.

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Auch in einer horizontalen Dimension gibt es eine Verbindung, einen Fluss, der untrennbar ist: unsere Verbindung mit anderen Menschen, mit allen fühlenden Wesen! Auch mit den Dingen, die unserere Wirklichkeit füllen und lebendig machen: ob Dogens „Gräser und Steine“, Reiskörner in Dogens „Anweisungen für den Koch“ oder Ryokans Schale. Im Bild von Indras Netz sind alle miteinander verbunden, ist alles verbunden. Wir bewegen uns mit anderen, sie mit uns. Indem wir mit anderen Menschen in eine Begegnung eintreten, lassen wir auch zu, dass wir selbst verändert werden. Dogen nannte dies „eine Dharmablume dreht eine Dharmablume“. Es ist ein Weg, die vielbeschworene Soheit sichtbar zu machen. Er ist heute so bedeutend wie damals. Die untrennbare Verbundenheit mit anderen immer in Erinnerung zu halten, ist wichtig in einer Tradition, die bisweilen etwas einseitig ein Idealbild des einsam in Abgeschiedenheit Praktizierenden pflegt. Das Leben Ryokans kann uns hierbei ein gutes Beispiel sein.

Der zinnoberrote Faden meint aber auch unser (noch) treu pumpendes Herz, die Verbindung zu unser eigenen Humanität, mit allem, das dazu gehört: Schmerz und Trauer wie Lachen und Freude, alle Verletzbarkeit, Leidenschaft, Verrücktheit, Sentimentalität - wie auch Leichtigkeit und Klarheit. Ohne diese, durch unsere Praxis immer dichter werdende Begegnung mit uns selbst, kann auch eine Verbindung nach „außen“ nicht tiefer werden. Wir bleiben, allen Errungenschaften auf diesem Weg zum Trotz, Menschen mit genau dieser Eigenschaft: wir bleiben Subjekt und Objekt von Ursache und Wirkung. So lange wir hier sind. Wir können dem nicht entrinnen.

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In der Übertragung des Zen wird die Hinwendung zum Absoluten, zur Leere, nachdrücklich betont. Das ist richtig und wird im besten Fall einen vollkommen neuen, frischen Blick auf unser gesamtes Leben eröffnen. Jedoch ist diese Leere nur weit genug und damit tragfähig, wenn in ihr Platz ist für „Form“, für alles „Relative“, für die zehntausend Dinge, für Empfindung, Gefühl, für das uralte Wirken des Karma.
Daher ist es so wichtig, dass wir nie vergessen mögen, dass wir durch den zinnoberroten Faden auf vielfältige Wiese verbunden bleiben. Wir sind eingeladen, diese rote, pulsierende Lebensader in unsere Praxis miteinzubeziehen, uns an ihr zu freuen und uns auch durch sie leiten zu lassen.

Gassho,
Juen und Nanzan

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