Dharma

Ungans Hände und Augen

Ungans Hände und Augen
(Hekiganroku, Fall 89)

Ungan fragte Dogo: "Was macht die große Bodhisattva des Mitgefühls mit all ihren Händen und Augen?"
Darauf antwortete Dogo: "Das ist wie bei einem Menschen, der mitten in der Nacht nach seinem Kissen tastet."
Ungan: "Ich verstehe."
Dogo: "Und wie verstehst Du es?"
Ungan: "Am ganzen Körper sind Hände und Augen."
Dogo: "Das ist gut! Doch hast Du nur acht Zehntel erfasst."
Ungan: "Und wie siehst Du dies?"
Dogo: "Der gesamte Körper ist Hände und Augen."


Avalokiteshvara (jap. Kannon oder Kanzeon), welche "die Klänge der Welt hört", wird oft mit "1000" Augen und Händen dargestellt und beschreibt einen buddhistischen Archetypus. Doch geht es nicht nur um die Hinwendung zur Bodhisattva des großen Mitgefühls: wir üben, um eben solches auch in uns selbst hervorzubringen. Der Anruf an uns Übende geht dann noch darüber hinaus und wird durch die allabendlich in Zen-Klöstern rezitierten "Vier Gelöbnisse" veranschaulicht:

Zahllose fühlende Wesen:
ich gelobe, mit allen gemeinsam zu erwachen.

Täuschungen sind unerschöpflich:
ich gelobe, sie alle zu lassen.

Unzählbare Dharma-Tore:
ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.

Unübertroffen ist Buddhas Weg:
ich gelobe, ihn zu verwirklichen.


Das, so mag man einwenden, ist nicht möglich. Stimmt!

Es ist schlichtweg unmöglich, allen zu helfen, alle Rufe zu hören.

Ferner können wir, rein anatomisch begrenzt durch Auge, Ohr, Nase und Form, niemals alle fühlenden Wesen retten.

Womit deutlich wird: hier geht es um ein Ideal. Um eine Ausrichtung, eine Absicht. Und darum, sowohl Ausrichtung als auch Bodenorientierung zu halten: gemeinsam.

Denn beide haben denselben Stellenwert für unsere Leben. Sie bestimmen gemeinsam, wie wir auf die Fragen antworten, die es an uns stellt. Sie gehören zusammen, sie sind aus einem Guss und tragen nur verschiedene Tönungen und Gewichtungen.

Warum benötigen wir Ideale? Sind sie nicht naive Romantik? Und das im "kühlen" Zen?

Die Antwort des Zen-Übenden ist einfach, denn jede/r, der oder die sich auf ein Kissen setzt, hat es bereits erlebt: das Herz, das Ideal schlechthin. Es möchte immer sitzen. Unser Herz liebt die Stille.

Und genau deswegen wird es in Form von Poesie, Literatur und Musik als auch in allen Weltreligionen angesprochen, unser tapferes Herzchen, das sich so häufig verstecken muss hinter all den Gedankenströmen, Informationsschauern und inneren oder äußeren Konditionierungen.

Es wird angerufen, weil es wachsen möchte und ans Licht treten, weil es im Angesicht der gesamten irdischen Katastrophe auch kaum einen anderen Appell geben kann als den an unser Herz, an unser Streben nach Verbundenheit, an unser Mitgefühl.

Es kann, im Angesicht des Unmöglichen, keine linear-logische Antwort auf unsere Probleme geben. Es kann, in nüchterner Betrachtung der ökologischen, politischen und sozialen Krise unserer Tage hierfür keinen rational-deduktiven Ansatz der Befreiung geben.

Dieser gesamte Körper ist Hände und Augen bedeutet: mein gesamter Körper ist Hände und Augen.

Eine spirituelle Praxis wie Zen ruft uns hierzu auf und hilft uns somit, unser menschliches Potential zu erkennen und wachsen zu lassen.

Das, was wir an Verbindendem vermögen, ist unendlich größer als wir (er)-denken können.

Ausrichtungen, Absichten und Ideale stellen kein Schönreden dar, sondern verleihen unserer manchmal allzu konkret-begrenzten, medial nivellierten Wahrnehmung die Töne, welche unsere Herzen benötigen, um in Schwingung zu geraten, um summen zu können: um gehört zu werden.

Unsere Augen und Hände sind auch da, um zu bezeugen, was schmerzt und was betrachtet, was geheilt und befriedet werden möchte: in uns und in anderen. Mit jenem Körper der eintausend Hände und Augen. Für jenen Körper der eintausend Hände und Augen.

Gassho, Juen und Nanzan



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Die sieben Faktoren des Erwachens

Im Rahmen unserer Herbst-Ango, der „Zeit des friedlichen Verweilens“, beschäftigten wir uns mit den „Sieben Faktoren des Erwachens“. Hiermit sind Geistesqualitäten gemeint, die uns dabei unterstützen können, ein waches und zufriedenes Leben zu führen. Es geht darum, diese uns bereits innewohnenden Eigenschaften zu stärken, sie neu zu sortieren. Wir müssen also nichts „Neues“ tun, nur ein bisschen putzen und räumen, passend zur Jahreszeit.

Die Faktoren bestehen aus:
1. Achtsamkeit
2. Erforschen des Dharmas
3. Bemühen / Energie
4. Freude
5. Ruhe, Gestilltheit des Geistes
6. Sammlung / Samadhi
7. Gleichmut

Wie sich unschwer erkennen lässt, und wie wir aus dem Studium des Achtfachen Pfades im Frühjahr bereits wissen, lassen sich die Faktoren in Unterbereiche einteilen:
Die Praxis der Achtsamkeit stellt den Ausgangs- und Mittelpunkt unserer spirituellen Praxis dar. Sie ist die Grundlage für die Entwicklung der anderen Geistesqualitäten. Die nächsten drei beschreiben energievolle Qualitäten, die letzten drei eher meditative Geisteszustände. Da wir durch unsere bisherigen buddhistischen Studien auch wissen, dass diese Reihenfolgen nie zufällig gewählt wurden, können wir ablesen, dass es den altehrwürdigen Autoren auch um einen ganz wichtigen weiteren Aspekt ging: Balance, Gleichgewicht.
Nur wenn es uns zunehmend gelingt, alle Facetten unseres Lebens zu beleuchten, wird unsere Übung ausgeglichen sein.

Wir beginnen mit der Achtsamkeit: wir beobachten die Bewegungen unseres Geistes: was geschieht? In Körper, Geist, Geistesformationen, den Objekten unseres Geistes.
Dann sehen wir genau hin: wie geschieht etwas? Hierzu müssen wir genau hinsehen, geduldig sein und: eine gewisse Energie aufwenden. Wir versuchen, Gutes zu fördern und Unheilsames zu vermeiden.
Hierdurch entsteht: Erkenntnis und Freude. Ohne Freude gibt es kein Vorankommen auf dem Weg, schon allein deswegen, weil es vor allem die Freude ist, die uns dabei hält, nicht die schwarz-asketische Versenkung, als die das Zen gelegentlich erscheinen mag. Es ist eine stille Freude der Gewissheit, etwas grundlegend Richtiges und Gesundes zu tun sowie die Freude des Entdeckens des eigenen Lebens, ohne dass wir äußerlich etwas verändern müssen. Eine tiefe Freude von unsagbarer Anziehungskraft führt geradewegs in, ist ein Aspekt von: Samadhi, Sammlung, Konzentration.

Dies alles zusammen mündet in die oben angesprochene Balance und Ausgeglichenheit. Hiermit ist kein farbloser Gleichmut gegenüber allem und jenem gemeint, sondern ein vibrierendes, oszillierendes und spektrales Weben auf einem Boden, der weder kommt noch geht, weder sichtbar ist noch unsichtbar: Substanz einer Welle, Grund unseres Seins, Buddha.

Gassho,
Juen


Bemühen

„Rechtes Bemühen“ gehört im Achtfachen Pfad in die Gruppe „Samadhi/Meditation“. Traditionell wurden damit unter anderem die „Vier Anstrengungen“ gemeint: Unheilsames vermeiden oder gar nicht erst hervorkommen lassen, Heilsames erwecken oder erhalten. Hierbei ist vor allem ein Kriterium entscheidend: ist dies der Befreiung förderlich oder nicht?
Daraus wird deutlich, dass rechtes Bemühen nicht notwendigerweise mit hartem Bemühen einhergehen muss. Der Buddha verwendete hierfür das Bild einer gespannten Saite, die, um einen guten Klang zu erzeugen, nicht zu stark, aber auch nicht zu schwach gespannt sein sollte.
 
Untrennbar verwoben ist dies mit „rechter Absicht“, denn „warum“ wir üben, kann nicht separiert werden von : „wie“ wir üben.
 
Wie können wir uns anstrengen, auf unserem Weg, in unserer Praxis, ohne dabei zu eng oder verkrampft zu werden?
Gerade das Zen mit seinen zahlreichen Formen, dem Edlen Schweigen und der visuellen Reduktion unseres Meditationsraumes, kann zu der Annahme verleiten, hier würde insbesondere auf Strenge und Disziplin wert gelegt. Verstärkt wird dies durch Zen-Geschichten, die von hohen körperlichen (und geistigen) Anstrengungen berichten, beginnend mit dem Buddha selbst.
Wie also kann es gelingen, dieses schier unmögliche Unterfangen, ein Buddha zu werden: den  Ziegel immerfort polieren, um einen Spiegel hervorzubringen?
 
Das Bemühen, um das es hier geht, erwartet vor allem die Bereitschaft, meinen geistigen Blick ein wenig lockern zu können:
Ich mag (oft vorab) diese Meinung haben, jenes Urteil fällen, diese bestimmten Bedürfnisse verspüren, diverse Ideen hegen – aber kann ich sie auch „lassen“ im Anblick der Wirklichkeit, die nicht selten so anders  an uns herantritt, als erwartet? Kann ich die Form, die ich mir bereits für sie zurechtgelegt habe, noch einen Spalt offen lassen und warten, ob sie sich dem Augenblick anpassen möchte – und nicht umgekehrt?
Möchte ich in meinem Sud dahinköcheln, das Leben als mal mehr, mal weniger störender Faktor daneben? Möchte ich meine ganze Kraft darauf verwenden, alles möglichst hübsch mundfein und „ruhig“ zu halten, under major control, auch wenn ich mir bewusst bin, dass es sich um eine narkotisierende Illusion auf Zeit handelt?
Oder kann ich mittendrin sein: „... kein Auge, Nase, Zunge, Körper, Geist, Farbe, Klang...“ und mich von meiner Wirklichkeit stets aufs Neue beunruhigen lassen?
 
Shunryu Suzuki, dieser sanfte Lehrer des letzten Jahrhunderts, beschrieb „rechtes Bemühen“ unter anderem als die Fähigkeit, keine Spur zu hinterlassen: nirvana.
Das ist ein radikales Bild: unsere gesamte Energie aufzuwenden, quasi sorglos sich vollkommen (meinem Leben und Sterben) überantworten.
 
... Keine Spur des Erwachens verbleibt, und dieses "Ohne-Spur" besteht für immer fort.
Dogen Zenji, Genjokoan

 
Um hierhin zu gelangen, oder mich aufrichtig darum zu bemühen, eine jeweils angemessene Antwort zu finden auf die Fragen, die mir mein Leben stellt, benötige ich vor allem Folgendes: eine gute Portion Hartnäckigkeit und ein aufmerksames Ohr ob meiner jeweiligen Balance.
Das ist der Mittlere Weg.
Auf ihm steht der Tür zu unserer Verbundenheit und Freiheit nicht mehr viel im Wege.
 
Gassho, Juen